Kapitel 1

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  Charlotte

Ich wusste nicht, was mich hierher verschlagen hatte. Es war einfach passiert. Ich saß auf der Straße in einer wohlhabenderen Gegend Londons. Alles war piekfein und sauber. Selbst die Hauswand, gegen die ich mich lehnte, um mich vor dem eisigen Wind zu schützen, ist so sauber, dass sie keinen einzigen Staubfleck auf meiner Jacke hinterlässt. Einen Unterschied hätte es eh nicht mehr gemacht.
Ich beobachtete die Menschen, die an mir vorbei hasteten. Die meisten Männer trugen schwarze Anzüge mit Krawatten und waren frisch rasiert. Die Frauen trugen selbst zu dieser Jahreszeit Röcke und exotische Kleider. Ich schüttelte missbilligend den Kopf.
Keiner beachtete mich und das war mir auch recht so. Ich wollte mit niemandem reden, wollte für mich bleiben und meine Gedanken ordnen, die wild durch meinen Kopf wirbelten.
Seit fast zwei Jahren lebte ich nun auf der Straße. Niemand hatte mir den Grund dafür erklärt oder ich war noch zu klein gewesen, um ihn zu verstehen.

Zu Anfang hatten einige Passanten erfolglos versucht, mich dazu zu überreden mit ihnen ins Heim zu gehen, wo ein warmes Bett und leckere Mahlzeiten auf mich warten würden. Doch ich reagierte grundsätzlich mit Ablehnung und Widerwillen. Ich fürchtete sie hätten Böses mit mir vor. Nach einiger Zeit kauerte ich mich nicht mehr nur noch zusammen, wenn jemand kam, sondern flüchtete Hals über Kopf in die andere Richtung. Erstaunte Blicke folgten mir dann. Mehr geschah nie. Sie wendeten sich dann einfach wieder ihrem eigenen Leben zu. Das kleine Mädchen von der Straße war schnell vergessen.
Nicht so schnell ließ sich die Polizei abschütteln. Einmal hatten sie mich durch halb London verfolgt und sogar Verstärkung angefordert. Panisch war ich durch die Menschenmengen gerannt, die erschrocken auseinander stoben. Die Polizei ließ sich nicht leicht abschütteln. Erst als ich in eine kleine Seitenstraße eingebogen und dort in ein kleine Öffnung eines Abwasserkanals geklettert war, hatten sie meine Spur verloren. Ich hörte sie noch lange „Wir wollen dir doch nur helfen!" rufen.
Ich hatte wie Espenlaub gezittert und war einige Stunden zusammengekauert im Abwasserkanal sitzen geblieben, bevor ich mich wieder beruhigt hatte und wie ein scheues Tier aus dem Kanal gekrochen kam. Danach haftete mir ein übelkeiterregender Geruch an. Ich konnte mich selbst kaum noch riechen.
Ich hatte keine andere Wahl gehabt und musste mir neue Klamotten besorgen. Erst durchwühlte ich alle möglichen Altkleider- Container, doch ich hatte kein Glück. Sie waren zuvor geleert worden.
Widerwillig hatte ich das nächste Kleidergeschäft angesteuert. Ja, ich hasste das Stehlen. Ich wusste, dass es nicht rechtens war, aber ich musste dafür sorgen kurz vor dem Winter auch wintertaugliche Klamotten zu besitzen.
Die Sache war schnell erledigt. Ich flitzte in den Laden, griff nach den erstbesten Kleidern, riss sie vom Bügel und rannte damit zur Tür.
Der Verkäufer war mir laut schreiend hinterher gerannt und machte so die Passanten, die gerade an dem Geschäft vorbei gegangen waren auf mich aufmerksam. Manche reagierten instinktiv und versuchten mich festzuhalten, doch meine Flinkheit zahlte sich aus. Ich entwischte jedem Arm, der nach mir grapschte. Ich flüchtete bis an den äußersten Stadtteil Londons, der an ein kleines Waldgebiet grenzte. Tief im Wald, wo mich vermutlich eh niemand vermuten würde, hatte ich mir ein kleines Lager, verdeckt von Büschen und Bäumen, errichtet. Hierher kam ich immer, wenn meine Touren in London 'erledigt' waren. Nur hier fühlte ich mich sicher und geborgen. Hier hortete ich auch alles, was ich ergattert hatte: Essen, Kleider, manchmal auch Schuhe und Decken.
Die alten stinkenden Sachen warf ich einfach in den Wald, die neuen zog ich an.
Sie würden wohl für ziemlich lange Zeit meine Begleiter sein. Und das waren sie. Ich trug sie jetzt, mehrere Monate später, immer noch.

Emma

Erschöpft ließ Emma sich auf der Couch nieder. Ein anstrengender Tag lag hinter ihr. Seit heute morgen um halb acht war sie von einem Termin zum nächsten gehetzt, ohne einmal Luft holen zu können.
Mittlerweile war es nach neun Uhr abends. Sie hatte Matt, ihren Freund, um eine Stunde verpasst. Er war zum Football spielen aufgebrochen und würde vor zehn Uhr nicht daheim sein.
Emma seufzte und beschloss ein Bad zu nehmen, um ihre steifen Glieder und auch sich selbst zu entspannen. Langsam stand sie auf und begab sich ins Bad, um das Wasser in die Wanne laufen zu lassen. Während das Wasser leise plätschernd in die Wanne lief, hing Emma ihren Gedanken nach.
Die gestrige Nacht war umwerfend gewesen. Matt hatte Abendessen gekocht, das bereits auf dem Tisch stand, als sie gestresst und erschöpft vom Set gekommen war. Und das, obwohl er Kochen hasste. Er hätte sie auch in ein Restaurant ausgeführt, jedoch wäre sie dafür zu berühmt, hatte er gescherzt. Sie hatte nur gelächelt.
Matt hatte Recht. Sie konnte nirgendwo hin gehen, ohne erkannt zu werden. Meistens entstand dann großes Chaos und Sekunden später war sie umringt von einer riesigen Menschenmenge, die Autogramme und Fotos haben wollte und sie dabei in viel zu enge Umarmungen zog.
Manchmal hasste sie das alles so sehr. Manchmal wünschte sie sich ganz normal zu sein. In ein Restaurant gehen zu können, ohne direkt die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Shoppen, ohne sich erst durch eine riesige Traube Menschen kämpfen zu müssen.
Doch dann dachte sie auch daran, wie glücklich und fröhlich sie die meiste Zeit über war. Sie liebte ihren Job, sie liebte die Menschen, mit denen sie zusammen arbeitete und sie liebte ebenfalls die Mengen an Fanbriefen, die jeden Tag bei ihrem Management eintrudelten. Die Unterstützung, die sie jeden Tag von ihrer Familie, ihrem Freund und ihren Fans bekam, bestärkte sie darin, weiter zu machen und sich für das einzusetzen, was ihr wichtig war. Sie wusste, dass sie ein Vorbild für Millionen von Menschen, besonders jungen Mädchen und Frauen war. Es erfüllte sie mit einem gewissen Stolz.
All das machte sie zu einem Menschen, der es nicht hätte besser treffen können. Und das wusste sie. Sie rief es sich oft ins Gedächtnis, wenn ihre Familie mal nicht zur Stelle war, um sie auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen. Es gab Menschen, die es viel schlechter getroffen hatten als sie selbst und deswegen hatte Emma es sich auch zur Aufgabe gemacht, sich um diese zu kümmern oder ihnen besser gesagt zu helfen, so gut sie konnte.
Und seit einiger Zeit gab es da eben noch Matt. Er war ganz anders als ihre Exfreunde. Er hatte Verständnis dafür, wenn sie sich manchmal sogar tagelang nicht sahen. Er murrte nicht, wenn sie gestresst und genervt nach Hause kam und es störte ihn auch nicht im Geringsten, dass sie so berühmt war.
Er versuchte ihr so gut zu helfen wie es ging, so wie gestern mit dem Essen zum Beispiel. So hatte sie sich nicht spät abends noch um etwas Essbares bemühen müssen.
Nach dem Essen hatten sie zusammengekuschelt auf der Couch einen Film angeschaut und den Tag mit einer Flasche Wein ausklingen lassen.
Der Gedanke an Matt brachte Emma wieder in die Gegenwart zurück. Sie drehte das Wasser ab und schaute erneut auf die Uhr. Sie hatte noch genügend Zeit, bevor ihr Freund nach Hause kam.
Emma ließ die Kleider zu Boden sinken und stieg in die Wanne. Sie tauchte bis zum Kopf in den Schaum ein und schloss genüsslich die Augen. So ließ es sich leben.  


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