Kapitel 7

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  Charlotte

Zuerst bemerkte ich Emma gar nicht. Erst als sie einen Schatten auf mich warf und dieser sich nicht weiter bewegte, schaute ich von einer Zeitung auf, die ich aus einem Abfalleimer geklaubt hatte.
Mein erster Impuls war wegzurennen und mich in Sicherheit zu bringen, doch dann erkannte ich, wer sich da über mich beugte. Mein schnell pochendes Herz beruhigte sich wieder.
„ Hallo Charlotte," begrüßte sie mich lächelnd.
Ich nickte ihr nur zu.
„ Wie geht es deinem Knie?" versuchte Emma ein Gespräch in Gang zu bringen.
„ Besser, danke," erwiderte ich knapp.
Innerlich verpasste ich mir eine Ohrfeige. Ich hatte mir doch all die Wochen gewünscht, Emma wieder zu sehen und jetzt wo sie vor mir stand, war ich so abweisend. Was war bloß mit mir los? Wollte ich sie spüren lassen, dass es ein Fehler war, mich auf der Straße sitzen zu lassen? Aber dafür konnte sie ja nun am allerwenigsten, schließlich war nicht sie es gewesen, die mich in das Pflegeheim gesteckt hatte. Dazu war Emma noch mehr als freundlich zu mir und sie hatte keine Verpflichtung überhaupt jemals wieder nach mir zu sehen.
Reiß dich zusammen, befahl ich mir und lächelte sie etwas steif an.
„ Und dir?" fragte ich dann.
„ Ach, ganz gut. Immer viel zu tun." Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.
Ich nickte bedächtig und fragte mich wieder mal, mit was Emma so beschäftigt war.
Mein Blick fiel auf zwei kichernde Mädchen, die in einiger Entfernung zu uns standen und Emma neugierig von oben bis unten musterten. Emma war meinem Blick gefolgt und wandte sich dann wieder seufzend an mich:" Ich bin gleich wieder da!"
Sie stand auf und ging zu den Mädchen hinüber, was dazu führte, dass eine der beiden beinahe an ihrem Kicheranfall erstickte und die andere ihr heftig auf den Rücken klopfen musste. Als sie sich wieder beruhigt hatten, zückten beide Stifte und hielten Emma Notizblöcke vor die Nase. Nachdem Emma in beide etwas hinein gekritzelt hatte und noch ein paar Worte mit ihnen gewechselt hatte, die ich von hier allerdings nicht verstehen konnte, kam sie wieder zurück zu mir.
Sie tat als wäre nichts passiert und ging zu einem anderen Thema über:" Hast du Hunger?"
Erst wollte ich den Kopf schütteln und ihr damit zu verstehen geben, dass ich ihre Hilfe nicht brauchte, doch dann hielt ich inne und nickte zögernd.
„ Schön" Sie strahlte, als hätte ich ihr gerade eines der schönsten Geschenke der Welt gemacht," dann lass uns doch was essen gehen. Ich habe gerade Pause."
Aha, Pause also. Vielleicht arbeitete sie in einem Büro. Als Managerin oder so.
Gemeinsam gingen wir einige Straßen weiter zu einem ziemlich nobel aussehenden Restaurant. Ich blieb wie angewurzelt davor stehen und Emma, die bereits an der Tür war, drehte sich nach mir um.
„ Kommst du?"
„ Ich... ich kann das nicht bezahlen," stotterte ich," ich hab kein...kein Geld."
„ Das macht nichts," erwiderte sie.
Sie streckte mir eine Hand entgegen, die ich, wenn auch zögernd, nahm und zog mich mehr oder weniger hinter sich in das Restaurant.
Sogleich kam ein Kellner herbei, verbeugte sich tief und begrüßte Emma mit tiefer Stimme:" Miss Watson," und einen Blick auf mich werfend:" ein Tisch für Zwei?"
Emma lächelte ihr strahlendstes Lächeln und folgte dem Kellner zu einem Tisch, der vom Eingang nicht leicht einzusehen war. Dafür hatte man aber einen atemberaubenden Blick auf die teuersten Juwelier- und Kleidergeschäfte Londons.
Im Gegensatz zu mir war Emma die Ruhe selbst. Sie schien sich wohl bestens auszukennen, wie es in der höheren Schicht ablief. Wir setzten uns einander gegenüber, nachdem Emma ihren Mantel ausgezogen und dem Kellner überreicht hatte. Sogleich kam ein anderer Angestellter herbei und nahm Emmas Bestellung auf. Für mich hörte sich das Ganze allerdings eher nach einer Fremdsprache an, die sie da mit dem Kellner austauschte anstatt einer normalen Essensbestellung.
Nachdem auch dieser Kellner verschwunden war, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder mir zu. Ich schrumpfte regelrecht unter ihrem Blick zusammen und wäre am liebsten unter den Tisch gekrochen, um ihren neugierigen Blicken auszuweichen. Natürlich war das nicht möglich.
Ich fingerte an der Tischdecke herum und räusperte mich nervös.
Sofort erschien ein Kellner:" Miss? Ist alles in Ordnung? Verläuft etwas nicht zu Ihrer Zufriedenheit?"
Ich wurde rot wie eine Tomate und scharrte verlegen mit den Füßen:" Ähhh..." stammelte ich immer wieder.
„ Es ist alles in Ordnung, danke," befreite Emma mich schließlich aus meiner misslichen Lage und der Kellner verschwand wieder.
Nicht räuspern also. Mal wieder etwas Neues, dass ich von der Oberschicht gelernt hatte.
„ Gehst du zur Schule?" fragte Emma völlig zusammenhanglos.
Ich schüttelte den Kopf.
„ Aber...du...hast doch ein Zuhause, oder?"
Wieder schüttelte ich den Kopf.
Bevor Emma jedoch noch eine Frage stellen konnte, kam ich ihr zuvor:" Ich lebe auf der Straße. Das wolltest du doch wissen, oder? Seit zwei Jahren. Ich stehle, um überleben zu können...nur das was ich brauche, natürlich," fügte ich hastig hinzu.
Emma seufzte:" Das hab ich mir gedacht..."
Ich runzelte die Stirn. Was sollte das denn schon wieder heißen? Wusste sie etwa über mich Bescheid? Aber...woher?
In diesem Moment betrat eine Frau mit schulterlangen blonden Haaren und einer Sonnenbrille das Restaurant und sah sich suchend um. Ihr Blick blieb an mir hängen und sie steuerte zielstrebig auf unseren Tisch zu.

Emma

Also war es wahr. Charlotte hätte tatsächlich niemanden, der sich um sie kümmerte. Dabei war sie gerade einmal 12 Jahre alt und sollte noch wohl behütet bei ihren Eltern aufwachsen.
Emma schaute auf als ihre Managerin, wie besprochen, an ihren Tisch trat.
„ Hallo Emma," begrüßte sie sie und warf dabei einen Blick auf Charlotte.
Emma machte ihr Platz, sodass ihre Managerin sich auf den Stuhl am Fenster setzen konnte.
Mit einem Blick auf Charlotte merkte Emma, dass diese unruhig auf ihrem Platz hin und her rutschte. Das Mädchen war ja wirklich extrem scheu.
„ Charlotte, das ist meine Managerin Denise," stellte Emma sie vor.
Charlotte ließ nicht erkennen, ob sie überhaupt gehört hatte, was Emma gesagt hatte. Sie war viel zu beschäftigt immer wieder hastige und 'Bleib bloß von mir weg' Blicke auf die Managerin abzufeuern.
Diese ihrerseits musterte das Mädchen mit abschätzenden Blicken.
Das fing ja gut an, dachte Emma sich.
„ Charlotte? Siehst du mich bitte an?" bat Emma.
Charlottes Blicke schweiften von Denise zu Emma und wieder zurück, blieben aber nach einiger Zeit auf ihr haften.
„ Ich mache mir wirklich Sorgen um dich. Ich möchte nicht, dass dir etwas auf der Straße passiert. Deswegen habe ich mit meiner Managerin geredet und sie gebeten, etwas über dich herauszufinden."
Charlottes Blick verwandelte sich in Wut:" Was denkst du dir dabei in meiner Vergangenheit rum zu schnüffeln? Das geht dich nichts an," ihre Stimme wurde lauter" außerdem: Was kümmerst du dich überhaupt um mich? Ich bin dir doch egal!"
Emmas Managerin warf ihr einen Blick zu, der so was ähnliches heißen sollte wie 'Hab ich es dir nicht gesagt'.
Emma schaute Charlotte leicht verzweifelt an:" Du bist mir nicht egal. Ich mache mir wirklich Sorgen um dich. Glaub mir. Du... du bist so ein liebes Mädchen und du verdienst jemanden, der dich liebt und sich um dich kümmert."
„ Ich brauche keine Familie," schrie Charlotte. Mittlerweile sah sie so aus als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.
Um sie herum herrschte Stille. Alle Leute starrten in ihre Richtung. Was war Emma froh, dass sie verborgen hinter einer Wand saß und man das Geschrei nicht direkt ihr zuordnen konnte.
„ Charlotte, bitte..." flehte Emma leise.
„ Lass mich einfach in Ruhe." Nun liefen Charlotte tatsächlich Tränen über die Wangen und sie machte Anstalten aufzustehen und zu gehen.
„ Bitte lass mich erklären..." startete Emma einen neuen Versuch und streckte die Hand nach Charlotte aus.
„ Fass mich nicht an," zischte diese und zog blitzschnell ihren Arm weg.
„ Charlotte, hinsetzen," donnerte da die Stimme von Denise.
Und tatsächlich: Vor Schreck ließ Charlotte sich wieder auf ihrem Sitz nieder und starrte von Emma zu deren Managerin und wieder zurück.
Wenn Blicke töten könnten...,dachte Emma bei sich.  


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