Kapitel 11

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  Charlotte

Emma hatte mir ausführlich erklärt, wer sie war und wieso es so schlimm war, dass nun alle Welt über mich Bescheid wusste. Sie hatte einfach nur Angst, dass mich jemand entführen würde oder das man ihr Schlimmeres, wie etwa Kindesentführung vorwerfen könnte.
Ich atmete erst mal tief durch, um diese neue Erkenntnis zu verdauen. Eigentlich verstand ich nicht wirklich, was das jetzt zu bedeuten hatte, deswegen sah ich mit ängstlichem Blick immer wieder von Emma zu Matt und zurück.
Gerade als Matt ansetzte, um etwas zu sagen, stürmte Denise ohne anzuklopfen in die Küche. Und sie war nicht allein. Ihr folgten eine weitere Frau und zwei Männer, der eine jünger als der andere.
Vor Schreck zuckte ich in gewohnter Art zusammen und machte mich ganz klein.
Es wurde kein „Hallo" oder „ Wie geht's?" gewechselt, stattdessen redeten alle durcheinander und versuchten gegenseitig das Rederecht für sich zu beanspruchen.
Aus den wenigen Wortfetzen, die ich durch das plötzliche Geschreie in der Küche mitbekam, konnte ich schließen, dass sich das Gespräch um mich drehte.
Aus Reflex hielt ich mir die Hände über die Ohren und versuchte mich gegen die Außenwelt abzuschotten. Ich machte mich ganz klein und schloss ermüdet die Augen. Die ganze Aufmerksamkeit, die nun auf mich einprasselte, war einfach zu viel. Ich fühlte mich plötzlich total erschöpft und ausgelaugt.
Was wollten die ganzen fremden Menschen auf einmal von mir?

Erst nach einer Weile wurde es leiser und ich bemerkte, dass mir jemand sanft den Rücken streichelte. Ich öffnete die Augen wieder und setzte mich auf. Es war Emma, die sich beschützend neben mich gesetzt hatte.
Als ich zu ihr aufsah, lächelte sie leicht und meinte:" Charlotte, das sind meine Eltern." Sie wies nacheinander auf die Frau neben Denise und den älteren Mann," und das ist mein Bruder Alex."
Ich musste zugeben, dass er verdammt gut aussah, aber da er eh zu alt für mich war und ich nicht in seiner Liga spielte, wendete ich schnell den Blick ab. Meine Wangen glühten. Hoffentlich hatte er meinen Blick nicht bemerkt.
„ Emma," sagte ihre Mutter nun. Ich bemerkte, dass sie Emma sehr ähnlich sah und auch mit derselben Sanftheit in der Stimme sprach," du hättest vorher mit uns reden sollen. Wir hätten das Problem gemeinsam gelöst..."
„ Du kannst doch nicht eine Bettlerin von der Straße aufgabeln und davon ausgehen, dass das keine Folgen haben wird," mischte sich ihr Bruder Alex erbost ein. Er warf mir einen finsteren Blick zu.
Ich schnappte empört nach Luft. Bettlerin? Hatte der arrogante Mistkerl mich gerade Bettlerin genannt?
Ich wollte ihn gerade fragen, ob ihm das Puder, dass er sich eindeutig zu viel um die Nase geschmiert hatte, auch in sein Gehirn gewandert war und dort alle wichtigen Informationsstränge verklebt hatte, als Emma mit wütendem Gesichtsausdruck aufstand, um den Tisch herumging und sich in ihrer vollen Größe vor ihrem Bruder aufbaute. Sie war nicht mal annähernd so groß, wie er, doch er senkte, ob der Blicke von ihr, den Kopf und zog sich zurück.
„ Alex" sagte nun auch sein Vater mit mahnender Stimme," lass uns nicht so voreilig urteilen."
Er murrte nur, zog sein Handy aus der Tasche und tippte gelangweilt darauf herum.
Außen hui, innen pfui, schoß es mir durch den Kopf und ich schämte mich schon beinahe vor mir selbst, dass ich auf diesen Mistkerl abgefahren war.
„ Denise hat euch sicher erzählt, wie sich alles zugetragen hat. Ich wollte Charlotte helfen. Sie ist immerhin erst 12 Jahre alt und sollte noch zur Schule gehen. Sie selbst kann doch überhaupt gar nichts dafür, dass man sie ins Heim gesteckt hat und es ihr dort nicht gefiel. Wir alle wissen nicht, wie es sich anfühlt, seine Eltern zu verlieren und bei fremden Menschen aufzuwachsen, die einem sicher nicht das geben, was man braucht: Liebe, Zuneigung, Geduld, Gefühl. Manche Menschen haben es nicht so gut wie wir. Und das sollten wir uns jeden Tag vor Augen führen. Ungerechtigkeit gibt es auch hier in unserem Land. In England. Direkt vor unserer Nase. Dafür müssen wir nicht mal in Entwicklungsländer reisen. Und ich weiß, wie viele Menschen es dort gibt, die unter denkbar ungünstigen Bedingungen leben. Charlotte ist vielleicht unter weniger gesegneten Umständen auf diese Welt gekommen, aber deswegen ist sie nicht weniger wert als wir.
Ich habe vielleicht nicht mit dem Kopf entschieden, aber jemandem zu helfen, der die Hilfe dringend braucht, ist das, was ich mit HeForShe auch erreichen will. Genau das ist es, was ich anderen Menschen versuche, näher zu bringen. Wäre es da fair, wenn ich es selbst nicht täte?"
Nach Emmas Rede schwiegen erst mal alle betreten. Ich konnte in allen Gesichtern, sogar in dem von Alex, ablesen, dass sie über diesen Aspekt noch überhaupt gar nicht nachgedacht hatten. In manche anwesenden Gesichter mischte sich sogar Reue.
Emma hielt angespannt den Atem an. Ich atmete abgehackt. Matts Hände waren zu Fäusten geballt.
Was würde jetzt kommen? Würden sie mich wieder ins Heim zurück schicken?

Emma

Nach ihrer langen Rede, die ihr verdammt einfach von der Hand gegangen war, obwohl sie sie nicht einmal vorbereitet hatte, studierte Emma die Gesichter ihr gegenüber.
In den Mundwinkeln ihres Vaters bemerkte sie sein typisches Lächeln. Ihre Mutter nickte, jedoch sah Emma, dass sie angestrengt nachdachte. Und Alex... der schaute wie ein mürrischer Teenager weg. Denise hielt sich vollkommen zurück. Sie hatte genug getan. Das war eine Sache, die Familie Watson unter sich ausmachen musste.
„ Nunja," setzte ihr Vater an" du bist alt genug, um deine eigenen Entscheidungen zu treffen und du verdienst dein eigenes Geld. Wir haben dir da immer freie Hand gelassen und das werden wir auch jetzt. Ich mische mich da nicht ein" Er hob die Hände und sah zu ihrer Mutter.
Emma folgte seinem Blick.
Sie seufzte tief:" Es ist eine Verpflichtung Charlotte gegenüber, Emma. Seid ihr euch dessen bewusst? Ihr müsst mindestens noch 6 Jahre lang auf Charlotte aufpassen und ihr haftet dafür, wenn sie etwas anstellt. Traut ihr euch das zu?"
Das war eine berechtigte Frage musste Emma sich eingestehen. Sie sah zu Matt. Er sah sie ebenfalls an.
Dann nickten beide gleichzeitig und lächelten:" Wir sind uns sicher. Charlotte wird ab nächster Woche zur Schule gehen und wenn sie will, zieht sie in das betreute Wohnheim. Wenn sie sich allerdings entscheidet hier zu bleiben, dann darf sie auch das."
„ Ganz sicher," betonte Matt nochmal und zog sowohl Emma als auch Charlotte an sich. Man konnte ihm ansehen, dass er überglücklich war.
Auch Emma fühlte sich als wäre eine schwere Last von ihr abgefallen, nun, da das Ganze auch von ihren Eltern abgesegnet war.
Die Sache mit den Paparazzis würden sie nun auch noch in den Griff kriegen.
Inzwischen wusste Charlotte gar nicht, wie ihr geschah, als man sie von einem zum anderen reichte und sie entweder umarmte oder aber auf die Wange küsste. Emma konnte jedoch erkennen, dass das kleine Mädchen sich sehr über die Zuneigung freute, auch wenn es dies noch nicht zeigen konnte. Die Menschen waren ihr ja auch ganz fremd. Emma konnte das verstehen. Sie lächelte Charlotte aufmunternd zu, die gerade in die Arme von Emmas Mutter wanderte.
Emma freute sich bereits jetzt wahnsinnig auf die nächsten Wochen und Monate, die sie mit Charlotte verbringen durfte. Ihrer Adoptivtochter.  


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