Kapitel 3

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  Charlotte
Meine Hoffnungen, mein Knie würde sich über Nacht erholen, waren direkt morgens beim Aufwachen im Keim erstickt worden. Es war auf die doppelte Größe angeschwollen und die Jeans schnitt nun eng in das Fleisch. Die Schmerzen waren so heftig, dass ich in Tränen ausgebrochen war, was äußerst selten vorkam. Am liebsten hätte ich mich wieder zusammen gerollt und wäre in einen tiefen Schlaf gefallen. So hätte ich wenigstens nichts von den Schmerzen mitgekriegt, die sich wie Messerstiche anfühlten und sich erbarmungslos in mein Knie bohrten.
Mir war klar, dass ich dringend einen Arzt brauchte, aber keiner würde einem obdachlosen Mädchen Hilfe anbieten. Ich verfluchte meine Eltern, die Polizei, das gottverdammte englische Wetter und England selbst für das, was sie mir antaten.
Schließlich, nachdem mir keine Schimpfwörter mehr eingefallen waren, die ich dem armen Baum gegenüber von mir, entgegen schleudern konnte, entschloss ich mich, zurück in die Innenstadt zu gehen, um dort vielleicht auf jemanden zu treffen, der mir seine Hilfe anbot.

Und nun saß ich hier, nach Ewigkeiten humpelnd, erschöpft und verschwitzt in der Innenstadt angekommen, an meinem angestammten Platz.
Es kam mir vor wie Stunden, in Wirklichkeit war es nur eine halbe Stunde gewesen, bis ich merkte, dass sich jemand neben mich kniete. Ich zuckte heftig zusammen und hätte beinahe erschrocken aufgeschrien.
Ich wollte schon panisch von ihr weg robben, da vernahm ich ihre glockenhelle Stimme: „ Hey, sh. Alles ist gut. Ich tu dir nichts. Ich will dir nur helfen!"
Ich hielt inne und schaute auf. Eine Frau mit freundlichem Gesicht, das von ihren langen hellbraunen Haaren umrahmt wurde und braunen, sanften Augen, musterte mich neugierig. Ich könnte schwören, dass ich sie schon irgendwann einmal gesehen hatte, doch ich konnte ihr Gesicht nicht einordnen.
Ich musterte sie von oben bis unten. Sie tat schweigend dasselbe. Minutenlang sagte keiner von uns ein Wort bis sie sich bewegte und ich ängstlich versuchte, mehr Abstand zwischen uns zu bringen.
„ Es ist alles gut. Du brauchst doch Hilfe, oder?" fragte sie freundlich.
Erst als ich zögerlich nickte, rutschte sie noch ein Stück näher: „ Ich heiße Emma. Und du?"
Ich schwieg.
„ Du musst mir deinen Namen nicht verraten, wenn du nicht magst." Sie lächelte und ich konnte ihre strahlend weißen Zähne sehen. „ Dein Knie muss dringend verarztet werden. Ich kann dich zum Krankenhaus bringen."
Ich schüttelte wild den Kopf, doch sie ließ sich davon nicht beirren und streckte mir ihre Hand hin. Wieder lächelte sie aufmunternd.
In meinem Kopf schlugen die Gedanken Purzelbäume. Ich hatte nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich vertraute dieser Frau, ging mit ihr mit und hoffte, dass sie mir nichts antat oder ich blieb hier und starb vielleicht in dieser kalten Straße, weil ich mich nicht mehr bewegen konnte.
Ich entschied mich für ersteres. Ihre ausgestreckte Hand ignorierend stützte ich mich an der Häuserfront ab und stand langsam auf. In der Zwischenzeit richtete sie sich ebenfalls auf und wartete bis ich so weit war, um mit ihr mitzugehen.

Emma

Emma wartete geduldig, bis das Mädchen ihr hinterher humpelte. Gerne hätte sie ihr geholfen, doch sie wusste, dass das Mädchen ihre Hilfe nicht annehmen würde. Während Emma schweigend neben ihr zum Auto ging, fragte sie sich, wieso das Mädchen auf der Straße lebte. Hatte es keine Eltern? Wie lange lebte es schon auf der Straße? Und vor allen Dingen, wieso? Emma hätte zu gerne Antworten auf all diese Fragen bekommen, aber da die Kleine hartnäckig schwieg, hielt sie es für besser ebenfalls zu schweigen.
Am Auto angekommen, das der Chauffeur mittlerweile einfach mal am Straßenrand geparkt hatte, sehr zum Unmut der anderen Autofahrer, lächelte Emma nochmals aufmunternd und fragte: „ Kannst du alleine einsteigen?"
Auch dieses Mal schwieg das Mädchen.
Emma öffnete ihr also die Tür, doch das Mädchen blieb abrupt stehen und begutachtete das Auto argwöhnisch.
„ Keine Sorge. Ich entführe dich nicht. Ich will dir wirklich nur helfen" versuchte Emma sie zu beruhigen. Sie hatte das Gefühl, dass dieses Mädchen eines der wenigen Menschen war, die sie nicht auf 100 Meter Entfernung erkannten. Einerseits fand sie das sehr erleichternd, doch andererseits wäre diese Sache nun um einiges schneller erledigt gewesen. So jedoch blieb das Mädchen weiterhin misstrauisch.
„ Miss..." erklang die Stimme des Chauffeurs aus dem Wageninnern," Sie kommen zu spät. Das schaffen wir niemals rechtzeitig."
„ Rufen Sie an und sagen Sie es ist etwas dazwischen gekommen. Und sagen Sie Ihnen, meine Managerin meldet sich!"
„ Aber Miss..." der Chauffeur schaute regelrecht verzweifelt drein.
Emma seufzte entnervt:" Bitte! Tun Sie einfach das, was ich sage!"
Emma wendete sich erst wieder dem Mädchen zu, als sie sicher war, dass ihr Chauffeur sein Handy zur Hand nahm und eine Nummer wählte. Insgeheim wusste sie, dass diese Aktion bestimmt Ärger geben würde, aber momentan war ihr dieses Mädchen wichtiger, als ein alberner Fototermin.
„ Na komm, ich helfe dir" Emma griff nach der Hand des Mädchens. Dieses zuckte erschrocken zusammen, doch Emma ließ sich davon nicht beirren und schob es, mehr als das es selbst ging, in das Auto hinein.
Man konnte dem Mädchen seine Panik regelrecht ansehen, doch Emma wusste, dass es nicht anders ging. Sie schlug die Tür zu und stieg auf der anderen Seite ein.
Ihr Chauffeur drehte sich zu ihr um: „ Miss...Ihr Kleid"
Emma schaute an sich herunter und sah, dass ihr Kleid an den Teilen, mit denen sie auf dem Boden gekniet hatte, staubig und dreckig war. Sie seufzte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Es war ihr neues Kleid von Prada, dass man ihr extra für diesen Fototermin geschickt hatte.
„ Und nun, Miss?" fragte der Chauffeur mit einem verwirrten Seitenblick auf das Mädchen.
„ Sie muss ins Krankenhaus" war Emmas knappe Antwort.
Der Chauffeur blickte sie einige Sekunden sprachlos an, wendete sich dann jedoch nach vorne und fuhr los.
Emma versuchte ihre Gedanken zu sortieren: Ihr Chauffeur dachte nun bestimmt, die Pferde wären mit ihr durchgegangen. Er wusste, dass sie eine wohltätige Ader hatte, doch noch nie hatte sie Bettler von der Straße aufgegabelt. Emma wusste selbst, dass dieses Verhalten von jemandem wie ihr nicht gewünscht war. Aber was hätte sie anderes tun sollen? Dieses kleine, wehrlose Häufchen auf der Straße sitzen lassen und zusehen, wie es sich in der Kälte den Tod holte? Sie hoffte, dass ihre Managerin, dass verstehen würde.
Plötzlich klingelte ihr Handy. Wenn man vom Teufel sprach: Es war ihre Managerin.
Sie atmete tief durch und ging ran.
„ Emma! Was ist bloß in dich gefahren? Gerade haben mich die Leute vom Fototermin angerufen und gesagt, dass du nicht kommst. Wo bist du? Und was verdammt noch mal tust du gerade?"
Emma startete ab und an den Versuch ihrer Managerin zu erklären, wieso sie nicht kam, doch deren Schimpftirade ging ewig weiter. Irgendwann gab sie auf und hörte einfach nur schweigend zu.
„ Also: Wo bist du?" endete ihre Zurechtweisung.
„ Das kann ich dir jetzt nicht erklären. Bitte versuch einen neuen Termin zu finden. Wir reden später" wimmelte Emma sie ab und legte auf.
Um nicht noch einen wütenden Anruf entgegen nehmen zu müssen, schaltete sie das Handy aus und wendete sich dem Mädchen zu.
Dieses saß stocksteif auf dem Rücksitz. Ihre Augen huschten hin und her wie bei einem verängstigten Rehkitz. Emma hätte sie am liebsten an sich gezogen und umarmt, doch sie unterließ es und schaute das Mädchen weiter an.

Endlich kamen sie am Krankenhaus an. Emma war es vorgekommen wie eine halbe Ewigkeit. Die Stille im Wageninnern hatte nicht dazu beigetragen, dass sie sich besser fühlte. Zu allem Überfluss bekam sie von all dem Stress nun auch noch Kopfschmerzen.
Mittlerweile war der Chauffeur ausgestiegen und hatte die Wagentür geöffnet. Emma hatte erwartet, dass das Mädchen sofort panisch hinausstürzen würde, doch nichts dergleichen geschah. Sie saß einfach weiter da und atmete stockend.
„ Wir sind da" munterte Emma sie auf, unsicher, ob sie mit hinein gehen sollte oder nicht.
Das Mädchen richtete seinen Blick auf Emma und wieder fühlte diese sich, als könnte es ihr genau in die Seele schauen.
Dann sprach sie das erste Wort: „ Danke!" Ihre Stimme hörte sich rau an, so, als würde sie nicht oft benutzt werden.
Emma brachte ein Lächeln zu Stande:" Kein Problem!"
Doch das Mädchen hatte sich bereits abgewandt und kletterte aus dem Wagen. Als der Chauffeur schon die Tür zuschlagen wollte, drehte das Mädchen sich noch einmal herum, beugte sich hinunter und flüsterte: „ Mein Name ist Charlotte!"
Emma blieb fast das Herz stehen. Das Mädchen trug ihren zweiten Vornamen.
Nachdem sie diesen Schock einigermaßen überwunden hatte, wollte sie etwas darauf erwidern, doch das Mädchen war bereits in der Menschenmenge verschwunden.  


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