One Direction und Klavier und Gitarre

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2. One Direction und Klavier und Gitarre

„Du kommst echt aus Los Angeles?" Jane stellte ihr Tablett auf einem der Tische in der Cafeteria ab. Ich nickte und stellte meines neben ihres. „Das ist ja so cool!", erklärte sie und setzte sich. „Ich meine, Los Angeles! Hollywood, Walk of Fame, Leonardo DiCaprio, überhaupt, LA, die Stadt der Engel!" Sie fuchtelte begeistert mit den Händen rum.

Ich runzelte die Stirn. Mit ihrer Nietenlederjacke und zerrissenen Strumpfhosen sah Jane nicht unbedingt wie jemand der auf Leo DiCaprio und Sommer, Sonne, Sonnenschein stand. Eher auf... Höhlen und so. Keine Ahnung, so Punksachen eben.

„Na Janny, mal wieder den Style gewechselt?" Ein Junge, in ungefähr meinem Alter, ließ sich auf den Platz neben sie fallen. Jane verdrehte die Augen. „Verpiss dich, John." Der Junge grinste und holte eine Flasche Wasser aus seiner Umhängetasche, die er demonstrativ vor sich auf den Tisch stellte.

„Ich bin übrigens John", er reichte mir über den Tisch seine Hand. „Amy", erwiderte ich leise. Mich würde so brennend interessieren, was er mit seiner Äußerung über Janes Kleidungsstil gemeint hatte.

„Mein total missratender Zwillingsbruder", führte Jane die Vorstellung fort. Jetzt verdrehte John die Augen. „Ich muss immerhin auch mit deinen... kreativen Schüben leben." Er drehte sich zu mir und erklärte: „Jane hat die merkwürdige Angewohnheit ihren Kleidungsstil zu wechseln wie andere Menschen ihre Unterwäsche. Kann passieren, dass sie nächste Woche als Hippie ankommt und einen auf ‚Spread the Love' macht und lustige Sachen raucht." Ich musste schmunzeln.

Jane schlug ihn gegen den Arm. „Laber doch nicht. Ich rauche nicht, das weißt du ganz genau." John lachte. „Jaja, das sagen sie alle", grinste er frech. Jane schlug ihn nochmal. „Und außerdem", meinte sie würdevoll, „hab ich schon vor drei Monaten Hippie getragen."

Inzwischen war es Donnerstag und Jane und ich hatten uns einigermaßen angefreundet. Unsere Gespräche bestanden zwar nur daraus, dass sie redete und ich nickte oder ab und an leise etwas sagte, aber es war okay. Wir kamen beide damit zurecht.

Eigentlich hatten wir uns auch schon vor einer Stunde bei ihr zuhause treffen wollen, aber London war größer als ich gedacht hatte. Und verwinkelter und... Ja, ich hatte mich verlaufen. Genervt zog ich mein Smartphone aus meiner Tasche und tippte die Adresse, die Jane mir heute Morgen gegeben hatte, in meine Naviapp ein. Keine drei Sekunden später teilte die mir mit, dass ich seit geschlagenen 700 Metern in die falsche Richtung rannte. „So eine Drecksscheiße", fluchte ich leise und drehte mich schwungvoll um, wobei ich fast eine junge Frau umrannte, die mich amüsiert angrinste. Ich wurde rot. Hatte sie mich gehört? „Neu in London?", fragte sie lächelnd und mit deutlichem Akzent und strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie war beinahe einen Kopf kleiner als ich, obwohl ich auch nicht gerade das war, was man groß nennen konnte und hatte freundliche graue Augen. Ich nickte und lächelte zurück. „Ging mir vor ein paar Monaten genauso", sie verzog ihr Gesicht bei der Erinnerung, „mich musste sogar mal ein Kumpel aufsammeln." Sie lachte leise und ich stimmte, wenn auch zögerlich, mit ein. „Na dann", meinte sie dann, „man sieht sich." Ich nickte, lächelte noch einmal kurz und folgte schließlich dem Weg auf meinem Smartphone.

Kurz darauf stand ich vor einem schmutzig weißen Mehrfamilienhaus und suchte die Klingelknöpfe nach dem Namen Mockridge ab. Woher hatte ich auch wissen sollen, dass ich nach rechts abbiegen und nicht gerade aus weiter laufen musste? Ganz rechts in der unteren Reihe fand ich schließlich den richtigen Namen. Mockridge, direkt neben Smith. Diesen Nachnamen gab es wohl überall. Ich drückte auf den schon leicht rostigen Klingelknopf.

„Ja?", erklang es verzerrt aus der Sprechanlage. „Hey, ich bins, Amy", erwiderte ich so leise, dass man es am anderen Ende der Anlage wahrscheinlich kaum hören konnte. „Hey Amy, alles klar? Warte, ich mach auf." Das war wohl eher John, auch wenn man seine Stimme durch dieses komische Mikrofonding kaum von Janes unterscheiden konnte. John saß fast jeden Tag mit uns an einem Tisch, meistens mit ein paar von seinen Freunden. Er war wirklich nett und versuchte mich täglich aus meinem Schneckenhaus zu locken, wie er es so schön sagte. Vor zwei Tagen hatte er mich ganz direkt gefragt, warum ich so schüchtern wäre, ich hätte doch nichts wofür ich mich schämen müsse. Ich war dunkelrot geworden und hatte rumgestottert und mit den Schultern gezuckt. Jane hatte mich dann gerettet, indem sie ihn angefaucht hatte, er solle gefälligst ruhig sein und abhauen. Okay, ihr genauer Wortlaut war „Halt die Fresse und verpiss dich, du Penner!"gewesen. Doch irgendwie hatte mir das zu denken gegeben. Nicht Janes Wortwahl, die war ich gewohnt, sondern Johns Frage. Was meinte er damit, ich hätte nichts wofür ich mich schämen müsse? Ich hatte noch nie so viel über mich nachgedacht wie in den vergangenen beiden Tagen. Ich war nicht hässlich, aber auch nicht wirklich hübsch. Gewöhnlich, durchschnittlich, nichts weiter. Meine Haare waren unauffällig hellbraun, zu lockig um glatt zu sein, zu glatt um lockig zu sein. Leider auch nicht die perfekt Mischung dazwischen, sodass sie wellig waren, sondern merkwürdig kraus und irgendwie... krisselig. Ich war durchschnittlich groß, 1,67m oder so und hatte eine gewöhnliche Figur. Ich hatte definitiv nichts, für dass sich ein zweiter Blick lohnte.

Me and my GuitarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt