Pandora

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Als das Mädchen erwachte war es finsterer Nacht. Was war passiert? Die Erinnerung überschwemmte sie wie die plötzliche Erscheinung Pandoras. Diese stand mit ihren Anhängerinnen vor ihr und starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Was tust du da?", zischte sie. Das Mädchen verharrte weiter in ihrem Schockzustand. „Die Greif-Figur..", stammelte sie. Pandora fing an zu lachen. „Ich..", versuchte sie es noch mal. „Ich, ich", äffte sie Pandora nach, „unser kleines Aschenputtel kann nicht mehr reden. Gut so, muss man sich wenigsten das nicht mehr antun." Sie lachten und ihre Anhängerinnen verschwanden. Pandora jedoch blieb. Sie kam dem Mädchen immer näher. Das bedrohliche Flüstern erreichte sie nur ganz knapp tief im Unterbewusstsein: „Schweig oder stirb, Miststück". Plötzlich blitzte vor ihr ein klitzekleines Messer auf und Pandora lies es gefährlich nah vor des Mädchens Wange hin und her schwanken. Das Mädchen begann zu zittern. „Was-", begann sie, doch Pandora brachte sie zum Schweigen, indem sie mit dem Messer ganz langsam, beinahe vorsichtig zustach und ihr einen winzigen Schnitt an ihrem Wangenknochen verpasste. Sie schnitt nicht tief, aber es reichte, um es zum Bluten zu bringen. Mit weit aufgerissenen, angstausstrahlenden Augen starrte sie in Pandoras lächelnde Augen.

Sie kannte den Mann, der in dem Stuhl saß. Wie hatte er sie gefunden? Und wie hatte er es geschafft hier hineinzukommen? Wieso hatten auch ihre Eltern es zugelassen, dass er überhaupt eintreten durfte? Sonst ließen sie doch auch niemanden hinein. „Ich hoffe, du hattest einen schönen Tag?", durchbrach ihre Mutter die Stille. „Ist alles in Ordnung, Schätzchen?", löcherte man sie weiter mit Fragen. „Du siehst ganz blass aus. Komm setz dich zu uns. Trink was." „Nein mir geht's schon gut, danke Dad", beruhigte sie ihre Eltern. „Dann setz dich doch endlich zu uns, Miu, na komm schon." Doch sie rührte sich kein Stückchen. Langsam, ganz langsam wagte sie einen Schritt vorwärts, zu ihm hin. Wie war er hier hineingekommen? Wo waren die anderen? Ungefähr 5 Meter vor ihm blieb sie stehen -Sicherheitsabstand. „Hallo Miu", war das einzige, was er zu ihr sagte. Mehr nicht. Als ob er sie nicht kannte, noch nie gesehen hatte. Doch auch er kannte sie.

„Deine Mutter hat mir viel von dir erzählt." Ach echt? Sonst redete sie nie. „Was führt Sie zu uns, Mister...", sie wusste, sie durfte seinen Namen nicht kennen. Sie konnte ihren Eltern nichts sagen. Sie nicht warnen. Aber er musste weg. Er durfte nicht hier sein. Als er ihr antwortete konnte sie das Zittern nicht mehr verstecken. „...Hunter.", beendete er ihren angefangenen Satz. „Aha...Mister Hunter...." Sie betonte seinen Nachnamen mit einer Mischung aus Angst und Erwartung. De Name passte perfekt. Er saß wie angegossen und ihr dämmerte es, dass die anderen bestimmt schon auf dem Weg waren. Keine Zeit mehr zu flüchten. Sie saß in der Falle. Wie damals.

Zwar schien sie sich ihrer Aktion völlig sicher, doch als das Mädchen tiefer in ihre Augen sah erkannte sie die Angst, die in ihnen floss. Pandora fürchtete sich, aber sie konnte es verstecken. Das Mädchen dagegen zeigte ihre Furcht ganz offen und versteckte sie kein bisschen. Wieso schafften es hier alle, ihre Gefühle so gut zu verstecken? Pandora grinste, als das Mädchen anfing zu schlottern. Die Angst in ihr stieg stetig und sie wusste sich nicht zu helfen. Gegen Pandora und ihre Anhängerinnen hatte sie keine Chance. „Was willst du von mir?", schaffte sie es dieses Mal einen ganzen Satz zu sagen. Pandora musterte sie abschätzig. „Von dir, Miststück? Ich will nichts von dir." Damit drehte sie das kleine Messer noch einmal in ihrer Hand und ließ es im Mondschein funkeln. Vorsichtig krabbelte das Mädchen ein Stück zurück. Sie brauchte unbedingt einen Sicherheitsabstand, denn sie wusste, außer Gefahr war sie noch nicht. „Pandora?", hörte sie es nun von weiter weg hören. Anscheinend hatten ihre Anhängerinnen erst jetzt bemerkt, dass ihre Anführerin gar nicht unter ihnen war. Genervt verdrehte diese die Augen, doch dann schlich sich wieder ein Glitzern hinein. Hektisch brachte das Mädchen noch mehr Abstand zwischen Pandora, dessen Augen nun wirklich hysterisch glühten und sich. Pandoras Blick glich der einer Wahnsinnigen. Mit ihren langen rosa Haaren und den lila Augen war sie wirklich hübsch, doch wenn man sie so wie jetzt sah, bekam es mit der Angst zu tun. „Bitte...", versuchte das Mädchen es noch einmal. Pandora richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und wirkte durch den Größenunterschied, da das Mädchen noch immer auf dem Boden saß, nur noch furchteinflößender. Sie verzog ihren Mund zu einem schiefen Grinsen und zischte: „Lauf!" Mit dem Messer in Pandoras ließ das Mädchen sich das nicht zweimal sagen. So schnell sie konnte sprang sie auf die Beine und floh. Sie stürmte los und wäre beinahe über eine Wurzel gestolpert und gefallen, doch im letzten Moment konnte sie sich noch mit einem Stolpern davor bewahren. Plötzlich war es ihr, als ob sie eine Art Pfeifen vernommen hatte. Noch im Laufen drehte sie sich um.
Wie in Zeitlupe schienen die nächsten Sekunden abzulaufen. Pandora stand noch immer mit diesem Grinsen im Gesicht weiter hinten. Aber das Messer lag nicht mehr in ihrer Hand. Stattdessen flog es durch die Luft -direkt hinter dem Mädchen her.

„Jetzt setz dich doch erstmal und erzähl wie es in der Schule war, bevor du unseren Gast mit Fragen durchlöcherst.", funkte ihre Mutter dazwischen. „Nicht jetzt", dachte sich Miu, doch sie hielt den Blicken ihres Gastes nicht länger stand. Einbrecher würde wohl eher passen. Er hatte ihre Unsicherheit bestimmt schon längst bemerkt, also senkte sie den Blick, konzentrierte sich auf den ruhigen Boden und wagte dann die restlichen Schritte zu ihm. Mit jedem Schritt den sie tat stieg ihre Panik. Die anderen konnten überall sein. Vielleicht waren sie schon um das Haus versammelt. Niemals würde sie das Haus so einfach verlassen können. Mit jeder weiteren Sekunde stieg ihre Unruhe. Solange Mr. Hunter da war konnte sie sich nicht schützen. Sie konnte keine Vorbereitungen treffen. Einfach nichts. Sie war hier mit ihm gefangen und konnte nichts gegen ihn und die anderen ausrichten. Mittlerweile war sie auf seiner Höhe, seine Hand nur Zentimeter von ihrem Körper entfernt. Gerade als sie sich endlich wieder von ihm entfernen wollte, meckerte ihre Mutter schon wieder: „Aber Miu, jetzt gib unserem Gast doch die Hand! Entschuldigen Sie sie bitte. Sie ist sonst nicht so. Muss man dich denn an alles heute erinnern?" Nein, erinnern musste man sie an nichts. Die Erinnerung steckte noch tief in ihr. Erinnern war das, was sie sich nie mehr wollte. Aber nun war es so weit. Er war wieder da. Sie hatten sie gefunden. „Ach das ist schon okay, Mrs. Bloom. Sie ist bestimmt nur ein wenig überrascht, nicht Miu?" Er sprach ihren Namen lächelnd auf sie herab, als ob sie schon verloren wäre. Automatisch nickte sie. Wenn sie ihm gehorchte, würde er ihr auch so schnell nichts antun. Hoffte sie. Aber da waren die anderen schon ganz in der Nähe. Und auch Mius Hoffnung sank von Sekunde zu Sekunde. Ein Ausweg war kaum noch in Sicht.


Noch 10 Stunden.



BlutrotWo Geschichten leben. Entdecke jetzt