Tot

42 5 0
                                    


Sie kroch zurück. Die Greife waren verschwunden! Einfache Steinfiguren einfach weg! Wie konnte das möglich sein? Doch es war so. Eine Erklärung war nicht in Sicht. Jedoch bemerkte das Mädchen nach einiger Zeit das Rot, das sich langsam über ihr Bein verteilte. Sie musste schleunigst ins Haus und ihre Wunde versorgen.

Knacks!

Ein heftiges Zittern überkam das Mädchen. Der Wind zog unbarmherzig an ihren dünnen Kleidern und pfiff über den dunklen Platz, als ob er jedes Lebewesen davontreiben wollte. Zögernd sah sich das Mädchen um, sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich wissen wollte, wer oder was das Geräusch vorhin verursacht hatte. In der Ferne war nichts zu sehen, dennoch rutschte das Mädchen weiter von dem Sockel des einstigen Greifs weg. Die Versuchung, sich wieder schützend hinter ihm zu verstecken war noch relativ hoch, doch gleichzeitig schreckte sie dieser Gedanke auch ab, so dass sie ungewollt noch ein Stückchen nach hinten wich. Lange starrte sie den leeren Platz auf dem Sockel an und ihr Blick hing in der Leere. Sie war eine Träumerin, nichts hielt sie davon ab. Manchmal streifte sie sogar noch während alltäglichen Handlungen in ihre eigene Welt davon. Ihre eigene Welt, das war der Ort, an dem sie am liebsten war. Ihr Rückzugsort, ihre einzige Flucht. Doch plötzlich raschelte es wieder und das Mädchen nahm eine leichte Bewegung in den Büschen hinter dem Sockel wahr. Ein Gesicht kam zum Vorschein. Sie zuckte zusammen. Die glänzenden Augen starrten durchdringend zu ihr hinüber. Ihre Augen weitaufgerissen suchte sie hektisch an dem Baum hinter ihr Halt. Mühsam zog sie sich an ihm hoch und ließ das Gesicht dabei nicht aus den Augen. Angsterfüllt presste sie sich an den Baum hinter ihr. Die kleinen spitzen Zweige piekten in ihren Rücken und stachen durch ihre Kleider hindurch und rissen sie auf. Als die Person jedoch keine Anstalten machte, auf sie zuzukommen, studierte sie seinen Blick genauer. Es schien, als beobachte er gar nicht sie, sondern irgendetwas neben oder hinter ihr. Ihre Hände begannen zu zittern, Tränen stiegen in ihr auf. Ihre Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie traute sich nicht hinter sich zu blicken.

Es raschelte.

Ganz knapp hinter hier hörte sie das durchdringe Brechen der Stille, verursacht durch das Knacken eines Astes. Ihr Zucken war plötzlich und ihre Hände krallten sich nur noch tiefer in den Baum. Ihr Angstzustand erlaubte es ihr nicht nach hinten zu sehen. Viel zu groß war die Furcht, dass dort etwas noch viel Böseres, Hasserfülltes lauerte, als Pandora. Trotzdem wagte sie nach einigen Sekunden tiefen Luftholens einen Blick zurück.

Ein spitzer Schrei entwich dem jungen Mädchen. Bloß gut einen Meter entfernt von ihr stand ein dunkel gekleideter Mann, doch auch dieser schien sich vollkommen auf die Person gegenüber von eben in den Büschen zu fokussieren. Sie nutze die Situation und humpelte los. Ihre Wade schmerzte und sie hatte das Gefühl, unendlich viel Blut zu verlieren, dennoch lief sie weiter.

Leises Getrampel verfolgte sie und ihre Panik wuchs. Plötzlich hörte sie wieder ein Rascheln und rechts von ihr aus einem Busch trat eine genauso in schwarz gekleidete Person hervor. Auch diese nahm die Verfolgung auf. Die erste Träne brannte sich des Mädchens Wange hinab. Mit einmal raschelte es zu ihrer Linken. Noch vor ihr kam ein in einen tiefschwarzen Mantel eingehüllter Mann zum Vorschein. Er hob seine Arme, seine Beine standen zum Sprung bereit. Er schien das Mädchen packen zu wollen. Außer sich vor Angst schlug das Mädchen einen geschickten Hacken und entkam damit gerade noch ihrem Angreifer. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals und schien aus ihrer Brust hinausspringen zu wollen. Ihre Hände begannen zu schwitzen, das Atmen fiel ihr schwer. Dazu kam ein immer stärkeres Rauschen in ihren Ohren, das ihr Hörvermögen einschränkte. Tränen flossen ihre Wangen hinab. Sie konnte nicht mehr. Ein weiterer Mann stieg aus einem Gebüsch und versperrte ihr den Weg. Von weiter weg kam das leise Lauterwerden von Fußgetrampel immer mehr in ihr Bewusstsein. Ein Angreifer musste schon ganz nah sein. Da riss sie etwas zurück und eine eiskalte Hand presste sich auf ihren Mund. Panisch begann sie zu schreien, bis ihr einfiel, dass ihr sowieso niemand helfen würde. Sie war nur noch knappe 25 Meter von dem Waisenhaus entfernt. Ihre Hölle bietete ihr den ultimativen Schutz, da sie nicht glaubte, ihre Angreifer würden es darauf anlegen, hineinzukommen. Es war nur noch so ein kleines Stück. Sie trampelte und schlug um sich. Als sie mit einem Fuß ihren Angreifer gegen das Schienbein traf lockerte sich dessen Griff. Ein leises Fluchen war zu hören. Das Mädchen stolperte, fing sich aber rechtzeitig auf und konnte weiterlaufen. Die nächsten 5 Meter waren geschafft, als hinter dem letzten Baum vor dem Waisenhaus ein Mann hervortrat. Er war größer als die anderen. Kräftiger gebaut. Sein Mantel spannte leicht um seine Schultern und ließ ihn dadurch nur noch mächtiger wirken. Abrupt blieb das Mädchen stehen. Verzweiflung und Hilflosigkeit war ihrem Gesichtsausdruck nach abzulesen. Sie war völlig allein und das spürte sie. Nicht einen Schritt wagte sie es auf diese neue, ihr unbekannte Person zuzumachen. Eine Hand ergriff ihre Schulter, unsanft wurde sie kurz darauf an die wahrscheinlich gut durchtrainierte männliche Person hinter ihr gedrückt und wieder löste sich von ihr ein kleiner Schrei. Als sie erneut zum Schreien luftnehmen wollte, drückte sich eine dicke Hand auf ihren noch geöffneten Mund und ihre Sauerstoffzufuhr wurde gestoppt. Sie wollte husten, doch es ging nicht. Bloß ein Röcheln kam ihre Kehle hinauf. Die mysteriöse Person vor dem Baum kam mit langsamen, kräftigen Schritten auf sie zu...Panisch riss sie die Augen auf und startete einen kläglichen Befreiungsversuch mit Zappeln. Dicke Tränen rollten ihre Wangen hinab, aber kein Schluchzen war zu hören. Ihre Sicht verschwamm durch den Schleier aus Tränen und nur unscharf konnte sie erkenn, wie ihre letzten Verfolger sich links und rechts in einem Halbkreis um sie positionierten. Langsam, bedrohlich und mit zugleich schweren, als auch federleichten Schritten kam ihr der Mann immer näher. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen. Seine Präsenz strahlte pure macht aus und seine Anwesenheit machte ihr Angst. Jeder Schritt von ihm wirkte wie eine immer größer werdende Bedrohung auf sie.

BlutrotWo Geschichten leben. Entdecke jetzt