13th gate

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Wütend und enttäuscht zugleich schlug das gemiedene Mädchen ihren Heimweg ein. Noch nie hatte sie sich mit Miu gestritten...und dann auch noch so doll. Der Himmel verdüsterte sich und dunkle Wolken zogen auf. Kurz darauf begannen auch schon die ersten Regentropfen, sich ihren Platz zur Erde zur suchen. Es wurde immer heftiger und auch die Baumallee links und rechts schützten sie weder vor der Kälte, noch vor der Nässe. Schließlich erreichte sie die Häuserblocks. Hier wohnten nur ärmlichere Familien mit ihren Kindern. Und obwohl es kein schönes Zuhause war und die Familien bestimmt alle große Not litten, hörte sie das ungezwungene Kinderlachen durch die dünnen Betonwände. Es war kein schöner Ort und doch gab es hier ein paar vereinzelte sterbliche Seelen, die auch hier glücklich waren. seltsam und unverständlich. Sie bog um die Häuserblocks und sah das große, dunkle und auch schon recht mitgenommene Haus von weitem. Hier drangen keine lachenden Kinderstimmen heraus. Kein Spielauto lag auf dem Weg oder sonst irgendeine angenehme Atmosphäre. Sie sah auf das große, verfallene Schild, das über dem Tor thronte:

„13th Gate - orphanage", 

ihr Zuhause.

Ein tiefes Grummeln erklang aus dem tiefsten Inneren ihrer Seele. Was für ein passender Name. Das Mädchen hasste diesen Ort. Er war abscheulich. Unmenschliche Sachen geschahen in ihrem 'Zuhause', falls sie es denn je so nennen konnte. Die Kinder mussten bis spät arbeiten, wurden geschlagen, wenn sie es nicht taten. Selbst die Kleinsten blieben nicht verschont. Ganz selten konnte man noch in ein paar dunklen Nischen das leise Schluchzen der jungen hören, doch blad verstummte auch dieses. Dann war es still im Waisenhaus, denn niemand traute sich etwas zu sagen. Aber es gab ja auch nichts, über das man hätte sprechen können. Wenn man einen Neuen des Nachts leise weinen hörte, beneideten manche es, denn Gefühle konnte hier kaum noch einer zeigen. Es war wie eine unausgesprochene Regel niemals seine Gefühle zu zeigen. Und niemand außer den Kleinen tat es. Das gemiedene Mädchen überwand den Hass, der wie immer, wenn sie die Torschwelle überschritt, in ihr hochwallte. Die 2 Greif- Figuren links und rechts vom Tor wirkten bedrohlich und schienen sie mit ihren steinernen Augen zu verfolgen. Erneut fragte sie sich, ob, wenn sie etwas Falsches getan hatte nicht einfach irgendwann von ihrem Sockel hinab- und sie in Stücke hacken würden. Vielleicht streckten sie auch nur eine ihrer riesigen Tatzen nach ihr aus und versuchten sie damit zu zerschneiden, möglich wäre es. Früher, als sie noch ganz klein war und Gefühle zeigte, war sie manchmal zu den großen Figuren gelaufen und hatte sich an ihren Füßen ausgeweint, wenn sie wieder einmal von Pandora geärgert wurde. Auch wenn man eigentlich nicht miteinander sprach, Ärger gab es hier trotzdem. Theoretisch konnte jeder mit jedem von hier machen was er wollte. Die Aufseher passten sowieso nicht auf und wenn sie dann doch einmal was mitbekommen hatten, taten sie bloß so, als hätten sie nichts gesehen. Bevor sie zu dem Greifen hingegangen war, hatte sie versucht, die Aufseher von den fiesen Taten Pandoras zu überzeugen, doch es hatte nie funktioniert. Stattdessen musste sie den ganzen Boden alleine putzen, weil sie die Hose einer Aufseherin mit ihren Tränen getroffen hatte. Als dann auch noch Pandora mit ihren Anhängerinnen über den von ihr gerade gewischten Boden lief, war ihr klar, dass jede noch so dicke Träne nichts gegen sie ausrichten würde. Und so war sie zu den Greifen gelaufen. Hier konnte niemand sehen, wie sie leise vor sich hin weinte. Und niemand konnte sie auslachen.

Doch irgendwann passierte etwas Seltsames. Wieder einmal lief das Mädchen zu den Greifen, wollte sich bei ihr ausweinen. Aber als es die beiden zu Stein erstarrten Figuren ansah, keimte ein komisches Gefühl in ihr auf. Sie starrte geradewegs in die Augen des Greifs und wurde gefesselt von dem durchdringenden Blick. Ihre Tränen versiegten und sie blieb wie erstarrt stehen. Vielleicht hatte sie irgendetwas Merkwürdiges in den Augen gesehen, hatte den Blick einfach nur so für längere Zeit durchdringend auf sie gerichtet, man wusste es nicht. Plötzlich schien das Mädchen etwas wie eine Art Blitz zu durchzucken, sie riss ihre Augen auf, dann verlor sie das Gleichgewicht, taumelte, landete unglücklich auf einem Stein, schlug sich die Stirn auf und wurde ohnmächtig.

In dieser Zeit war Miu Zuhause angekommen. Auch sie war von dem Regen getroffen und pitschnass geworden. Sie war wütend, doch gleichzeitig traurig, dass ihr das andere Mädchen nicht genügend vertraute, um sie zu sich nach Hause zu lassen. Sie verstand es einfach nicht. Was war schon so schlimm an dem eigenen Zuhause, dass das andere Mädchen es wie ein Geheimnis hütete? Sie schüttelte den Kopf und erreichte den Vorgarten. Gelbe Blumen standen dort gemischt mit Margeriten und ließen das willkommene Zuhause-Gefühl in ihr hochkommen. Ein Lächeln stahl sich wieder auf ihr Gesicht, erlosch jedoch sogleich, als sie den großen Fußabdruck im Matsch sah. Dieser Abdruck stammte nicht von den Schuhen ihrer Eltern, er war fremd. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihr auf, doch sie überquerte den Vorgarten und öffnete die Haustür. Als sie im Flur stand, hörte sie das Lachen ihrer Eltern und das, eines Fremden. Aber es war ein Lachen. Erleichtert atmete Miu aus und befreite sich von ihrer durchnässten Jacke und den feuchten Schuhen. Ihr Shirt klebte an ihrer nackten Haut und auch mit ihrer einst hellblauen Hose sah es nicht besser aus. Also entschied sie sich, zuerst ihre Sachen zu wechseln und dann den Besuch zu begrüßen. Vorsichtig erklomm sie die erste Stufe. Die Treppe war alt und so knartschte sie an gewissen Stellen, aber mittlerweile kannte Miu die Stellen auswendig, um sie, wenn notwendig, zu umgehen.

„Miu?", rief da ihre Mutter durch die Tür. Anscheinend war sie doch nicht so leise gewesen, wie erhofft. „Willst du unserem Besuch denn gar nicht hallo sagen?" genervt schüttelte sie die Augen. „Doch, doch. Ich wollte mir nur eben schnell was anderes anziehen. Es hat geregnet, weißt du?", entgegnete sie entnervt. „Okay, komm aber schnell." Miu antwortete nicht mehr, sondern lief eilig die Treppe hinauf. Rasch schlüpfte sie in ein weißes Shirt und zog ihr rotes Lieblingskleid über. Ihre Eltern hatten ihr unbekannten Besuch, das war schon ziemlich merkwürdig. Und immer, wenn etwas merkwürdig oder ungewohnt war, zog sie ihre Lieblingsklamotten an. Darin fühlte sie sich sicher.

Langsam ging sie wieder die Treppen hinunter und achtete darauf, keine der knirschenden Treppenstufen zu betreten, sodass sie sich unbemerkt in die Küche schleichen konnte, von wo aus man direkt ins Wohnzimmer schauen konnte. So hatte sie die ultimative Chance, den Besuch schon mal von hinten zu inspektieren, ohne, dass dieser es merkte. Leise schlich sie in die Küche und schob den kleinen Vorhang zur Seite, der ihr die Sicht ins Wohnzimmer versperrte.

Im Sessel saß ein Mann im schwarzen Smoking. Er hatte braune, kurze Haare und sah an sich nicht so aus, als ob er hier hin gehören würde. Misstrauisch begutachtete Miu den Fremden noch einmal so gut es ging, aber ihr fiel nichts Beunruhigendes auf, das ihren Verdacht bestätigen könnte. Also klopfte sie zaghaft an den Türrahmen neben ihr und erreichte damit die vollkommene Aufmerksamkeit. Der Mann im Smoking drehte sich zu ihr um und Miu sah sein Gesicht.

Sie erbleichte.

Nur noch 11 Stunden.




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