Vergangenheit

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Alles, alles änderte sich in diesem Moment, dieser Sekunde. Damien, die Erinnerungen. Bilder, immer wieder Bilder, die mir durch den Kopf flogen. Sie flossen wie ein langer strudelnder Fluss in meinem Kopf an mir vorbei. Ich erkannte Momente, Szenen, wie Filmmausschnitte und doch konnte ich sie nicht zuordnen.

Ich verstand sie nicht. Nichts davon war vertraut.

Alles fremd, völlig unbekannt.

Ich wusste nicht, was zu tun war. Ich sah Damien durch den dichten Schleier der Bilder vor mir auf der Bettkante sitzen und mich besorgt anstarren. Ich musste wohl ziemlich ängstlich dreinschauen, er jedenfalls legte seine große Hand vorsichtig auf meine Kleine. Es war seltsam und unangenehm zugleich. Dennoch begann meine Haut zu kribbeln und gleichzeitig zu jucken, als ob mir jemand Juckpulver auf meine ganze Hand gesträubt hätte. Aber dem war nicht. Es war Damiens Hand, aber sie war warm und auch seine Augen voller Mitgefühl und Wärme. Ich ließ meine Hand bei ihm.

Währenddessen zogen die Bilder vorbei. Die Filmausschnitte zeigten mich, wie aus anderen Augen, scheinbar von einer dritten Person gesehen. Zunächst, als ich noch ganz klein war. Ich sah eine mir fremde Familie mit einem kleinen Mädchen im Sand spielen. Das Mädchen hatte dunkle braune Haare, aber durch ihr Alter waren sie noch ganz kurz und so dünn, dass man die Kopfhaut darunter erkennen konnte. Eine jüngere Frau strich ihr liebevoll über den Kopf und ein etwa genauso alter Mann lachte unbekümmert, als die Kleine ihn mit Sand bewarf. Es dauerte einen Moment bis ich begriff, dass dieses kleine Mädchen Ich war. Und die beiden jungen Erwachsenen meine Eltern, meine Familie.

Danach wurde es dunkel. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie bei der vorherigen Erinnerung sich alles warm angefühlt hatte. Ich hatte mich wohl gefühlt, doch jetzt, jetzt war es kalt. Es war, als zöge ein kalter Wind, eine leichte Brise um meinen bloß von einem dünnen Kleidchen eingehülltem Körper. Ich fröstelte. Die Erinnerung war dunkel, fast blau. Plötzlich kam Bewegung ins Spiel. Jemand befand sich als Außenstehender irgendwo in der Nähe eines kleinen, scheinbar gemütlichen Hauses mit Gärtchen. Der Blick des Betrachters ruhte auf einem Busch an der Hauskante, doch in im regte sich etwas. Wie auf ein lautloses Signal tauchten immer mehr Männer aus der Dunkelheut auf. Genau wie die Männer von denen Damien erzählt hatte trugen auch sie lange schwarze Mäntel, durch die sie nicht untrainiert wirkten. In dem kleinen Zimmer begann ich zu zittern. Die Erinnerung war so dunkel, so kalt, dass ich wusste, es konnte keine Gute sein. Die Männer krochen aus Büschen, Winkeln, Ecken. Kleine Orte, tote Winkel. Perfekt als Versteck. Sie versammelten sich um das kleine Häuschen und bildeten damit einen bedrohlichen Schein, der sich um das komplette Grundstück legte. Dann, alle auf einmal, hoben sie die Arme und kurz darauf trat die Familie aus dem Häuschen, die ich in der Erinnerung zuvor noch als die meine identifiziert hatte. Das kleine Kind, ich, wurde auf dem Arm der Mutter getragen und ihr Vater stand hinter den beiden, einen Arm um mich und den anderen um seine Frau gelegt. Es wirkte beschützend, doch in Anwesenheit der vielen dunklen Personen vollkommen unnütz. Irgendwann schienen die Personen anzugreifen. Ich konnte es nicht erkennen, die Sicht verschwamm so sehr, dass man nicht mehr als vermuten konnte, was dort hinten geschah. Als sich das Bild wieder verbesserte waren die beiden Erwachsenen verschwunden und nur noch das kleine Kind, also ich war dort. Einer der Männer hielt mich in den Armen und sie schienen zu beraten. Schließlich endete der Ausschnitt und ein direkter, beinahe genauso kalter Ausschnitt zeigte mich bei meinem ersten Tag in 13th- Orphanage. Man hatte mir mein Bett gezeigt, in dem ich die nächsten Jahre leben durfte. Sowohl damals wie heute war 13th Orphanage schon trist und grau. Doch es weinte noch niemand. Ich war die Jüngste, Pandora ca. 2 Jahre älter und einen Flur von meinem Bett entfernt. Doch damals hatte es begonnen.

Ich wusste noch, wie sie und ihre Anhängerinnen mich zum ersten Mal sahen. Es gab niemanden in meinem Alter und beinahe somit auch niemanden, der weinte. Ich hatte den Fehler begangen und gleich am ersten Tag mein Inneres preisgegeben. Pandora und die anderen hatten mich an diesem Tag durch die Gänge laufen sehen, völlig tränenüberströmt und allein. Die Decken waren hoch und das Parkett dunkel, sodass mein kleines Ich beinahe vollkommen von den riesigen, dunklen Eindrücken verschluckt wurde. Pandora hatte mich gesehen und mich zu ihr gerufen. Ich hatte damals so etwas wie Hoffnung verspürt, ich weiß es noch genau. „Was ist los mit dir, Kleine? Bist du neu?" Ich nickte traurig. Die nächsten Tränen drohten hinabzukullern. „Und warum weinst du?" „Ich kann den Saal mit meinem Bett nicht mehr finden", entgegnete ich daraufhin schüchtern. „Ohh, soll ich dich dorthin führen?" Mein kleines Ich nickte lächelnd, die Tränen wegwischend. „Na dann komm mal. Wie heißt du denn?"

„Yuki, mein Name ist Yuki."

Das war der Moment, wo sich ihre komplette Haltung verkrampfte. Sie starrte mich an. Mich, das kleine weinende Kind. Sie schien mit sich zu ringen, dann schließlich machte ein harter Ausdruck dem Warmfühlenden von zuvor in ihren lila Augen Platz. Ich hatte es damals nicht bemerkt und überglücklich ihre Hand genommen, stolz, dass mir so ein liebes Mädchen, wie ich dachte, half. Pandoras Haltung versteifte sich nur noch mehr. Dann schüttelte sie ihre Hand und riss sich von mir los. Angeekelt starrte sie die Kleine an. „Was denkst du dir eigentlich? Was glaubst du wer du bist, mich einfach so an die Hand nehmen zu wollen?! Ich werde dir nicht helfen. Niemand wird das hier. Verschwinde von hier, oder wir alle hier machen dir das Leben zur Hölle!", schrie sie wutentbrannt.

Ich konnte mich nicht bewegen. Reagierte zu spät, als die große Hand auf meine Wange zu schnellte. Sie traf meine kleine Wange wie die Wucht eines riesigen Feuerballs. Ein roter Abdruck bildete sich darauf, während ich als kleines Mädchen von der Wucht zurückgeworfen wurde. Ich plumpste auf den Boden und blieb verschreckt sitzen. Ihre Anhängerinnen hatten währenddessen zischend die Luft eingezogen, doch blickten mich genauso abwertend an, wie Pandora es tat. Ich war ein kleines Kind, ich verstand es nicht. Doch als Pandora einen Schritt auf mich zumachte und ihre Anhängerinnen es ihr gleichtaten, begriff ich. Meine Augen wurden groß und ich rappelte mich auf. Ängstlich wich ich einen Schritt zurück, doch Pandora machte Anstalten, mir noch näher zu kommen. Da ergriff mich die Angst. Meine kleinen Beine arbeiteten von alleine. Fuß vor Fuß lief ich davon. Es war das erste Mal, dass ich aus 13th-Orphanage weglief, aus Angst, sie taten mir was an. Eigentlich war es sogar genau genommen auch das erste Mal, dass ich überhaupt flüchtete. Immerhin, war ich noch so klein gewesen. Doch Ereignisse dieser Art sollten nicht die Einzigen bleiben. Pandora machte ihr Versprechen wahr und sie und sie andern machten mir das Leben zur Hölle. Still weinte ich bitterlich Tränen, doch nichts half. Niemand stoppte sie. Ich lief und lief, immer wieder. Mir wurde von klein auf beigebracht, zu laufen.

Mir wurde beigebracht, zu fliehen.

Und nun saß ich hier. Auf einem Bett, das viel zu groß für mich war, in einem Zimmer, das wunderschön und nur für mich hergerichtete war. Neben einem Mann, der mir sagte, er war derjenige, der mich rettete. Er hatte mich entführt, hatte dank seiner Gewalt mir meine Erlebnisse der Vergangenheit in den Kopf zurückgerufen, hatte mich gelehrt, dass ich niemanden beschützen konnte und ich überall angegriffen werden würde, egal von wem. Doch er hatte mir geholfen. Hatte mich befreit aus dieser schrecklichen Finsternis.

Hatte mich gerettet vor denen, die mir schaden wollten.

Er war die erste Person, die mir zeigte, dass da jemand für mich war.

Jemand für mich.

Jemand, der an mich dachte.

Jemand, der mich zum ersten Mal beschützte.

Jemand, der sich um mich sorgte.

Ich sah in seine Augen, seine blutroten Augen, die voller Sorge auf mir lagen.

Er hatte es damals getan, wie heute.

Ich vertraute ihm.

Ich vertraute Damien und seiner Geschichte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 11, 2016 ⏰

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