Kapitel 22

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Ich kann nicht behaupten, dass es mir hier nicht gefällt. Ich meine, Emmas Essen ist schon gut und alles, aber Gran ... Oma kann es richtig. Wenn ich hier das Jahr bleiben würde, müsste man mich am Ende zum Flughafen kugeln. Mason sagte gestern zu mir, es sei normal, dass man soviel und so gut zu Thanksgiving kocht. Wobei gut doch eine Einstellung des Kochs sei. Mase war vollkommen geschockt, als ich ihm sagte, dass wir zu Hause in Deutschland nicht so viel um das Erntedankfest machen. "Kein Truthahn?", hat mein Cousin gefragt und ich hatte nickend bestätigt. "Wenn man Glück hat, dann gibt Kürbiskuchen oder Kürbissuppe, aber meistens geht das an mir vorbei." Ich meine das echt so. Meine Eltern sind kaum religiös, wenn, dann gehen sie an Weihnachten in die Kirche, aber sonst ist alles normal, nicht von irgendwelchen Gebeten oder Gott geprägt.

Nun sitze ich also an einem vollgepackten Esszimmertisch, der Truthahn in der Mitte dampft und duftet verführerisch und alle anderen murmeln ein Gebet. Dabei haben sie den Blick auf ihren Schoß gesenkt. Ich beobachte Emma, wie sie sagt: "Danke, Herr, dass du mir so Vieles und Gutes beschert hast." Ich gucke verlegen auf meinen Teller und versuche mich verzweifelt an ein paar Zeilen aus dem Religionsunterricht zu erinnern, der aber auch schon mehrere Jahre zurückliegt. Ich gebe auf und versuche mich stattdessen an einem Gedicht von Rainer Maria Rilke. Ich erinnere mich noch dunkel, dass es um einen Panther ging. 'Ein rosaroter  Panth ...' Ach nein, ist das nicht eines der Intros von James Bond. 'Mein Name ist Bond, James Bond.' Och nee, warum lasse ich mich immer so schnell ablenken? Von wem war das letzte Intro doch gleich? Adele! 'This is the end ...' Verflucht, schimpfe ich mich selbst aus. Wieso kann ich nicht einmal beim Thema bleiben. Also beginne ich das Essen aufzuzählen, dass auf dem Tisch vor sich hin vegetiert, während die anderen ihre Beziehung zu Gott vertiefen. Truthahn, Kartoffelsalat, gebackener Kürbis, Kürbiskuchen. Wieso heißt der Kürbis eigentlich Kürbis?, frage ich mich und nach diesem Einwurf meiner Selbst, beschließe ich, den aufdringlichen Gedanken freien Lauf zu lassen.

Nach dem Essen liege ich in unserem Zimmer und starre an die Decke. Mein Bauch fühlt sich an, als wolle er platzen. "Ist das normal?", erkundige ich mich bei Lucas. Er nickt und rülpst leise. "Mahlzeit.", murmle ich und greife nach meinem Handy. Es ist 23 Uhr, Lucie sollte inzwischen wach sein. 'Hey.', schreibe ich. Sie grüßt zurück. Ich erzähle ihr von Lukes Hand an meinem Hintern auf der Fahrt. 'Oha', schreibt sie zurück. 'Wenn ich mich nicht irre, ist der schwuler als du.' Ich schicke einen Lachsmiley. 'Das ist aber auch nicht schwer.', entgegne ich ihren Anschuldigungen. 'Meinst du, es könnte nochmal etwas passieren.' 'Ich bezweifle, dass es nicht passieren könnte.' Ich lasse mein Handy sinken. Jemand stupst mich permanent an meinem Fuß an. "Willst du mit Skateboarden kommen?", fragt Mase. Ich nicke, schnappe mir eine Jacke und renne hinter Luke und Mason her.

"Wer ist denn das?", frage ich meinen Cousin. Ein blondes Mädchen mit vermutlich mehr Oberweite als Hirn stalkt uns schon seit fast einer halben Stunde. "Sie? Ach, das ist Joana." Ich gucke Mason fragend an. "Ich war früher Mal ganz gut befreundet mit ihr. Wartet einen Moment, ich gehe kurz rüber." Ich nicke und wende mich Lucas zu, der es wundersamer Weise schafft, diesen Spring-Trick mit dem Skateboard zu machen. "Wie geht das nur?", frage ich ihn. Er lacht. "Es ist eigentlich ganz einfach, aber bevor du das machen kannst, solltest du wenigstens richtig fahren können." Luke lacht erneut und die Schmetterlinge fliegen herum, tanzen Salsa oder machen eine Party, oder was auch immer. "Okay, nochmal von vorne. Wie fährt man Kurven?" Eine schmerzhafte Erfahrung. Ich bin alleine Skateboarden gegangen, um  ein bisschen zu üben, habe vergessen eine Kurve zu machen und bin prompt gegen eine Half-Pipe gerast. "Ich zeige es dir nochmal." Und tatsächlich Schritt für Schritt führt er es mir vor. In meinem Magen kribbelt es schon wieder.

Lucas steigt vom Skateboard und ich tue es ihm nach. Wir trainieren seit gut einer Stunde und Mason unterhält sich immer noch mit Miss-meine-Brüste-sind-größer-als-mein-Hirn. "Lass rüber gehen.", schlage ich vor und Lucas folgt mir auch sofort. "Joana, vergiss es.", hören wir Mase sagen. Er steht mit dem Rücken zu uns. "Bei den beiden hast du nicht den leisesten Hauch einer Chance." "Aber wieso denn nicht?" Sie hat uns offenbar auch noch nicht entdeckt. "Glaub mir einfach." "Bieten wir ihnen was, wenn sie sich umdrehen?", fragt Luke mich flüsternd. Ich nicke nur, kann mir aber ein Grinsen und das Schmetterlingsgeflatter nicht verkneifen. Wegen diesen Insekten sollte ich eventuell Mal den Exorzisten rufen, einen Kammerjäger? Mason ist dabei sich umzudrehen und Lucas unterbricht jegliche meiner Gehirnaktivitäten, indem er mich zu sich umdreht und küsst. Und zwar nicht so ein leichter Kuss! Nein, sondern so, wie er mich das letzte Mal bei der HuHA Veranstaltung geküsst hat. Wie habe ich das vermisst. Ich klemme das Skateboard zwischen meine Knie und und ziehe Lucas näher an mich heran. "Leute!", höre ich Mason leicht vorwurfsvoll rufen. "Könntet ihr bitte aufhören zu knutschen während ich dabei bin oder nehmt euch am besten gleich ein Zimmer." "Welches denn?", versuche ich schlagfertig zu sein. Ist mir offensichtlich nicht gelungen. Mase dreht sich zu Joana, die uns immer noch anstarrt. "Und das ist der Grund, weshalb du für die beiden nicht attraktiv bist." Luke grinst verträumt und legt mir einen Arm um die Schultern. Fühlt sich gut an, doch leider werde ich das Gefühl nicht los, dass er sich das nur traut, weil ihn hier kaum einer kennt. Ich fahre mir durch die Haare, nehme das Skateboard wieder unter den Arm und beginne zu überlegen, wie ich uns hier Freizeit verschaffen könnte. Morgen fahren Emma und John mit den Großeltern Möbel einkaufen - fragt mich bitte nicht weshalb ... Also liegt es an Mason. Vielleicht könnte er zu Joana gehen?

Ich liege wach. Seit drei verfluchten Stunden. Mason schnarcht und draußen, direkt vor unserem Fenster haben eine Katze und ein Kater offenbar beschlossen, sich zu vermehren. Bemüht leise stehe ich auf und gehe in Richtung Küche. Eventuell hilft ja kaltes Wasser. Außerdem habe ich Durst. Ich habe mir gerade Wasser eingefüllt, als ich die Wendeltreppe knarren höre und Lukes verschlafenes Gesicht sehe. Nur in Boxershorts. Will der Junge mich umbringen? Ich habe allein schon in Vorsicht und Respekt ihm gegenüber ein T-Shirt angezogen. Mein Blick wandert über die perfekten Bauchmuskeln und bleibt an der V-Linie hängen. Wie kann man nur so attraktiv aussehen? Ich stelle das Glas auf der Küchentheke ab. "Komm her.", flüstert Lucas und zieht mich zu sich. "Weißt du eigentlich wie gut du aussiehst?" Hilflos stottere ich irgendein Zeug vor mich hin. Luke lacht leise. "Offensichtlich nicht." Und dann küsst er mich. Die Stirn, die Nase, die Wangen, das Kinn, die Ohren (!) und schlussendlich den Mund. Ich habe richtig Gänsehaut und küsse ihn aber stürmisch zurück. "Nehmen wir uns ein Zimmer?", haucht Lucas Masons Vorschlag gegen meine Lippen. Ich kann nur Nicken.

Mein Weg zu dir (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt