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Ich wache auf, weil ich spüre, dass ich nicht länger allein im Raum bin. Ich öffne die Augen und blinzle gegen das grelle Tageslicht an. Jemand steht neben meinem Bett und beugt sich über mich. Allmählich gewöhnen sich meine Augen an das Licht und ich erkenne Hunter in dem Umriss. Hunter, dessen Gesicht immer weiter auf meines zukommt. Ich weiß nicht, was er vorhat, aber reflexartig landet meine Hand auf seiner Brust, um ihn auf Abstand zu halten. Oh mein Gott! Meine Finger treffen, anders als erwartet, nicht auf T-shirt-Stoff, sondern auf nackte, warme Haut. Nackt? Oh ja! Zumindest halbnackt, stelle ich mit einem Blick auf seine schwarzen Boxershorts und die geöffnete, dunkelrote Kapuzenjacke fest. Er hält kurz inne und seine Augen wandern zu der Stelle, an der wir uns berühren, dann zurück zu meinem Gesicht. Auf seinem Gesicht breitet sich das mir bekannte, anzügliche Grinsen aus. "Bay.", seine Stimme ist heiser und jagt Schauer über meinen Körper. Was soll das werden? Ich nehme ihn mit all meinen Sinnen
wahr, spüre die Hitze, die von seiner Haut ausgeht, er riecht männlich, betörend. Mein Atem beschleunigt sich ungewollt. Gleich werde ich zu zittern anfangen. Was auch immer er gerade mit mir anstellt, er muss sofort damit aufhören. SOFORT. "Ich habe ja kein Problem damit, von dir befummelt zu werden, Schwesterchen.", seine Worte triefen vor Selbstgefälligkeit, "Aber wenn du heute noch etwas vom Frühstück willst, solltest du vielleicht damit aufhören und stattdessen aufstehen." Bitte was? Wer von uns ist denn nur halb bekleidet, ohne vorher anzuklopfen in das Zimmer einer praktisch Fremden spaziert? Und das nach der gestrigen Ansage zum Thema Privatsphäre und Grenzen. "Dein Zimmer ist also tabu für mich, aber umgekehrt kannst du machen, was du willst?" Seine Antwort kommt schnell und gepresst:"Oh ja, Kleine. Ganz genau so ist es. Denn das hier ist noch keine 24 Stunden dein Zimmer, und wenn es sein muss, sorge ich dafür, dass das auch so bleibt." Schon wieder eine Drohung. Aber was will er schon machen? Mir etwas antun? Einem 17-jährigen Mädchen? Im Haus seiner eigenen Mutter? Ich verdrehe genervt die Augen und versuche ihn von meinem Bett zu schieben, aber er rührt sich keinen Millimeter von der Stelle. "Wenn du willst, dass ich aufstehe, musst du mich auch lassen!" Das scheint zu wirken, denn er rückt von mir ab, sodass ich die Decke zurückschlagen und mich aufrichten kann. Als mir jedoch bewusst wird, dass ich selbst nicht viel mehr anhabe als er, ein knappes Tanktop und Shorts, keinen Bh, schlüpfe ich schnell zurück unter die Decke. "Ich würde mich jetzt gerne anziehen. Alleine!" Lachend geht er auf die Tür zu, dann dreht er sich noch einmal um und fragt:"Liest du?"
Ich bin verwirrt. "Was meinst du?"
"Was soll ich schon meinen? Liest du Bücher? Interessierst du dich für Literatur?" Er sieht mich an, als wäre ich geistig minderbemittelt.
"Achso. Ja, ich lese.", sage ich schlicht. Er wirkt zufrieden, ganz als würde irgendein Plan, den er gerade verfolgt, nach seinen Wünschen aufgehen. "Gut, dann mach dich jetzt fertig, und pack ein Buch in deine Tasche. Ich soll dir die Stadt zeigen." Ich kann ihm einfach nicht folgen. Wozu brauche ich ein Buch, wenn wir den ganzen Tag durch die Stadt laufen? Ich versuche, mir meine Verwirrung nicht anmerken zu lassen und erkläre ihm, dass meine Bücher noch nicht angekommen sind, weil sie irgendwo in den Umzugskartons stecken, und nicht in meinem Koffer. Ich hatte bloß ein einziges Buch für den Flug dabei, und das hatte ich schon nach vier Stunden durchgelesen. Er stößt zischend die Luft aus. Dann macht er drei große Schritte auf mich zu, packt meinen Arm und zieht mich aus dem Bett hinter sich her zur Tür. "Hunter, was...?" Er schneidet mir das Wort ab:"Komm mit!" Er lenkt mich über den Flur auf sein Zimmer zu. "Ich dachte, dein Zimmer sei für mich..." Während er die Tür aufdrückt und mich eintreten lässt, sagt er genervt:"...TABU! Zu jedem anderen Zeitpunkt. Aber ich will, dass du dir hier ein Buch aussuchst und ich kann ja schlecht das Bücherregal zu dir rüber schleppen, verfickt noch mal!" Bisher hat er nie geflucht. Er muss gerade also wirklich über alle Maßen verärgert sein. Aber was ist denn sein Problem? Ich meine, ich kenne mein eigenes Problem: Ich fühle mich hilflos und unwohl, weil ich in einem fremden Haus im Zimmer meines fremden Sozusagen-Stiefbruders stehe, das eigentlich verbotene Zone für mich ist, und ich trage ein weißes Top, ohne Unterwäsche darunter. Schnell verschränke ich die Arme vor der Brust. Aber was ist mit ihm? Er scheint sich keineswegs unwohl zu fühlen, er wirkt einfach nur wütend. Nur warum? Ich beginne, mich zu frage, ob das an mir liegt, oder ob er einfach immer so ist.
Erstmals sehe ich mich in dem Raum um. Er ist hell und sehr dezent eingerichtet. Die Wände sind weiß, das Mobiliar in dunklen, männlichen Farben gehalten. Die größte Fläche wird von dem breiten Bett in der Mitte des Zimmers eingenommen. An einer Wand lehnt ein großes Regal, das von oben bis unten mit Büchern gefüllt ist. Ich bin erstaunt und ein wenig beeindruckt, als ich einen Blick auf die Titel werfe: Neben einigen Typisch-Junge-Action-Stories finde ich nämlich auch eine ganze Reihe klassischer Romane und Dramen.
Hunter funkelt mich an:"Such dir deine Lektüre aus und dann raus!"
Jetzt reicht es mir aber! Schließlich war er es, der mich hier hineingeschleift hat. Gegen meinen Willen, wohlgemerkt. Ich mache auf dem Absatz Kehrt und stürme hinaus.

Stepbrother dearestWo Geschichten leben. Entdecke jetzt