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Es ist noch früh am Morgen, etwa fünf Uhr, und ich könnte eigentlich noch über eine Stunde in meinem Bett verbringen. Da aber jedes bisschen Schlaf für mich mit unerträglichen Albträumen einhergeht, verzichte ich darauf lieber und nehme stattdessen gerne die permanente Müdigkeit in Kauf. Ich schlage also die Bettdecke zurück und schwinge mich, noch leicht schlaftrunken, aus dem Bett. Mein erster Gang führt mich in die kleine Küche im Erdgeschoss. Dort fällt mein Blick auf die leeren Regalbretter. Alles ist bereits in Kisten verpackt, die sich vermutlich in diesem Moment in einem Flugzeug irgendwo über dem Nordatlantik befinden. Mitsamt meiner Kaffeemaschine. Fantastisch. Kaffee ist für mich essentiell. Zumindest seit dem Tod meiner Mutter. Weil ich seitdem jede Nacht Albträume habe und nicht mehr richtig schlafen kann. Und jetzt ist die Maschine, die meinen Lebenssaft produzieren sollte, nicht hier, sondern auf dem Weg in die Vereinigten Staaten von Amerika, wohin auch mein Vater und ich heute aufbrechen werden. Was genau genommen auch eine Folge des Todes meiner Mutter ist, denn wir ziehen zur "Neuen" meines Vaters, die ja schließlich gar nicht existieren würde, wenn Mom noch am Leben wäre. Soviel dazu. Die "Neue" heißt mit richtigem Namen Celia Hayes und ist mit nicht einmal vierzig gut zehn Jahre jünger als mein Dad. Er hat sie letztes Jahr auf Geschäftsreise in Amerika kennengelernt, wo sie irgendein Seminar  für Geschäftsführer leitete. Inzwischen führen die beiden seit einem halben Jahr eine Fernbeziehung, weshalb ich selbst bisher auch nur über Skype mit ihr gesprochen habe. Aber sie scheint meinen Vater endlich wieder glücklich zu machen und sie muss ihm so wichtig sein, dass er jetzt sogar eine Versetzung beantragt hat und ab sofort für eine Betriebsstelle in Washington, D. C. arbeitet. Das alles dauerte kürzer als Dad gedacht hatte, und deshalb konnten wir so schnell keine geeignete Wohnung finden. Celia fühlte sich wohl irgendwie mitverantwortlich für das Umzugsdebakel und bot uns sofort an, bei ihr einzuziehen, zumindest vorübergehend. Sie wohnt mit ihrem Sohn in Baltimore, das heißt über eine Stunde von Dads neuem Arbeitsplatz entfernt. Dad muss gleich nach unserer Ankunft in sein neues Büro und hat deswegen für die ersten Nächte ein Hotelzimmer in Washington gebucht. Für sich. Er müsse sich zuerst in den neuen Job einarbeiten, da lohne es sich nicht immer hin- und herzupendeln. Und ich soll vorerst allein bei seiner "Neuen" einquartiert werden. Sicher! Jetzt sitze ich hier, in unserer leergeräumten Wohnung, und warte darauf, bei einer fremden Frau mit Kind ausgesetzt zu werden.
Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch, als sich eine große Hand sanft auf meine Schulter legt. „Guten Morgen, mein Schatz. Bist du bereit für das Abenteuer Amerika?", höre ich die warme Stimme meines Vaters hinter mir. Ohne ihn anzusehen, weiß ich genau, wie hoffnungsvoll sein Blick gerade ist. Er hat ein schlechtes Gewissen, weil er mich gegen meinen Willen ans andere Ende der Welt mitschleift, und auch, weil er nur ein Jahr nach Mom's Tod bereits wieder in einer so ernsthaften Beziehung steckt. Ich drehe mich zu ihm um und versuche mich an einem Lächeln. „Klar Dad, mehr als bereit. Das wird sicher...", ich suche nach einem passenden Adjektiv, denn wenn ich jetzt mit "toll", "super" oder "genial" anfange, müsste ich lügen. Dad beendet den Satz für mich: „...eine sehr interessante Erfahrung für uns beide!" Ich stimme ihm dankbar zu. Ihm ist klar, dass das nicht einfach für mich ist, schließlich soll ich hier mein gesamtes bisheriges Leben zurücklassen, und noch dazu Moms geliebte Heimatstadt London. Aber Mom lebt nicht mehr, Dad schon. Und er soll sein Leben genießen. Wenn wir dazu umziehen müssen, soll mir das Recht sein. Außerdem ist es nicht so, als gäbe es sonst noch etwas, das mich hier hält. Im Gegenteil, die meisten meiner Freundschaften habe ich vernachlässigt und abbrechen lassen, nachdem Mom weg war. Und eine Beziehung wäre erst recht nicht infrage gekommen. Ich bin also bereit, nochmal neu anzufangen. In Baltimore.

Stepbrother dearestWo Geschichten leben. Entdecke jetzt