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Als ich mich schließlich aus dem Bett quäle und von dem Drang nach Koffein die Treppen hinunter in die Küche getrieben werde, findet sich von Hunter keine Spur. Mit ihm ist auch jeglicher Nachweis der gestrigen Party verschwunden, was mich verwundert und zugleich beeindruckt. Die Vorstellung von einem mit Müllbeutel, Putzhandschuhen und Reinigungsmitteln bewaffneten Hunter bekomme ich nur schwer in meinen Kopf. Aber wer weiß, vielleicht hat er sich auch einfach eine Putzkolonne bestellt, die alle Überreste seiner Eskapade beseitigt hat. Da ich nun offenbar das Haus für mich alleine habe, überlege ich, was ich mit all der Privatsphäre anstellen soll. Ich könnte mich zum Beispiel völlig unbeobachtet im Zimmer meines neuen Stiefbruders umsehen. Dieser Gedanke empört mich beinahe selbst. Normalerweise neige ich nicht zu so etwas. Ich respektiere das Eigentum und den privaten Raum anderer. Aber irgendwie provoziert mich Hunter in einer Weise, wie kein anderer das bisher getan hat. Trotzdem. Das kann ich nicht machen. Mein Gewissen würde mich umbringen. Also nehme ich mir nur meine Tasse Kaffee und eine Orange aus der Obstschale auf der Küchentheke und mache mich auf den Weg zu der riesigen, gemütlichen Couch, um mich anschließend gelangweilt durch die Fernsehsender zu klicken. Aber die Figuren und Unterhaltungen auf dem Bildschirm gehen vollkommen an mir vorüber. Ich versuche gar nicht erst, mich darauf zu konzentrieren. Immer wieder wandern meine Gedanken zu den Begegnungen mit Hunter. Er ist so unfreundlich, so wütend und unberechenbar. Und doch hat es sich so gut angefühlt, neben ihm aufzuwachen. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Obwohl, wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, weiß ich es sehr wohl. Ich mag Hunter. Dabei sollte das das Allerletzte sein, was ich für diesen Jungen, nein, für diesen Mann empfinden sollte. Es macht mich verletzlich. Und nach allem, was ich bisher erlebt habe, gehört Hunter zu den Personen, die jede Form der Verletzlichkeit auszunutzen wissen. Allerdings tut er mir auch irgendwie leid. Gestern Abend hatte ich fast das Gefühl, er wollte, dass jemand seine eigene Schwäche, sein Bedürfnis nach Nähe sieht. Aber genauso schnell hat er sich am nächsten Morgen wieder verschlossen. Ich weiß einfach nicht, wo ich ihn einordnen, wie ich ihn einschätzen soll, wenn seine Stimmung wortwörtlich über Nacht umschwingt. Gerade als ich beschließe, für den Moment genug Gedanken auf Hunter Hayes verschwendet zu haben und mich entspannt zurücklehne, um doch noch ernsthaft nach einem guten Film zu suchen, klickt das Türschloss der Haustür und zerschneidet damit die friedliche Ruhe des Hauses.
Hunter postiert sich gelassen und selbstzufrieden im Türrahmen. "Was machst du, Sis?" Interessant. Wir sind also von 'seine Erektion presst sich an meinen Unterleib' zu einer 'Bruder-Schwester-Beziehung' gewechselt? Gut, wenn er besagten ersten Teil einfach mit seiner betonten Gleichgültigkeit überspielen will, werde ich darauf eingehen. " Ich schaue fern.", antworte ich kurz. Er mustert mich, als versuche er, meine Stimmungslage einzuschätzen. Als wäre ich diejenige mit Stimmungsschwankungen wie ein dreijähriges Kind. "Das kann ich ja irgendwie sehen. Was schaust du?" "Hab ich noch nicht entschieden.", verwirrt von seinem plötzlichen Interesse, füge ich noch etwas zögerlich hinzu: "Möchtest du mitschauen?" Ich rechne bereits mit einem fiesen Kommentar und einem darin enthaltenen 'Nein' auf meine Frage, bevor ich sie überhaupt gestellt habe. Umso überraschter bin ich, als er sich wortlos auf dem am weitesten entfernten Ende des Sofas niederlässt und mir auffordernd zunickt. "Jetzt such schon einen Film aus, Bay. Dir ist bewusst, dass wir uns gerade nur Werbung anschauen, auf einem Kindersender, oder?" Völlig durcheinander gebracht nicke ich und schalte auf einen Dokumentationssender, dann einen Actionfilm, dann einen sehr mädchenhaften Liebesfilm, bis ich eine Mischung aus Action und Romanze finde, die ich mir vor einem Jahr bereits im Kino angesehen habe. Der Film war gut und ich habe nichts dagegen, ihn ein weiteres Mal zu schauen. Allerdings ist mir Hunters Gegenwart so bewusst, dass ich mich wahrscheinlich sowieso auf keinen Film konzentrieren können werde.
In der Mitte des Filmes steht Hunter auf und geht davon, was ich als Zeichen hinnehme, dass er genug vom geschwisterlichen Beisammensein hat. Doch nach wenigen Minuten kommt er mit zwei großen Schüsseln voller Popcorn zurück, von denen er mir eine reicht, bevor er es sich wieder auf der Couch bequem macht. Etwas näher diesmal, fällt mir auf. Im Laufe des Nachmittags schauen wir einen Film nach dem anderen und ich bemerke, wie ich immer entspannter werde, sich zugleich aber unsere beiden Körper geradezu anzuziehen scheinen, denn wir rücken immer weiter aufeinander zu, bis der Abstand zwischen uns auf eine Armlänge geschrumpft ist. Außerdem werde ich allmählich immer schläfriger, denn das Wummern der Bässe letzte Nacht und nicht zu vergessen Hunter in meinem Bett haben mich nicht gerade zu viel Schlaf kommen lassen. Meine Augenlider werden schwerer und schwerer und ich muss mich davon abhalten nicht zur Seite zu kippen. Oder wenigstens nicht auf Hunter. Aber als Hunter meine Gleichgewichtsschwierigkeiten bemerkt, zieht er meinen Oberkörper nach unten auf das Sofa, sodass mein Kopf auf seinem Schoß landet. Oh Gott. Was soll das nun schon wieder? "Entspann dich, okay. Du sahst müde aus. Also bleib liegen und lass uns einfach weiter fersehen. Wenn du einschläfst, lass ich dich heute auch in Ruhe, versprochen. Das schulde ich dir." Ich tue, was er sagt. Und nachdem ich meine Muskeln dazu gebracht habe, sich wieder zu lockern, drifte ich tatsächlich in einen friedlichen Schlaf ab.

Stepbrother dearestWo Geschichten leben. Entdecke jetzt