6. Ersticken

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-Louis Pov.-


„Ich kann es nicht fassen, er ist ein Mörder. Wir haben ihn hier schlafen lassen und er hätte uns einfach so umbringen können. Oh Gott, zum Glück haben ihn diese Männer gefunden." Die Worte kommen wütend und trotzdem voller Schock aus Melanies Mund. Ich kann nicht fassen, was sie da sagt. Auch wenn Harry das wohl größte Arschloch auf dem Planeten und wahrscheinlich ein Mörder ist, ist sie sich dem Ernst der Lage definitiv nicht bewusst. Ich weiß nicht wieso, aber ich habe das dringende Bedürfnis, Harry zu helfen. Vielleicht hat er jemanden umgebracht, doch wen findet man hier denn noch, der dies nicht gemacht hat? Diese Männer werden ihn mit 99%- iger Sicherheit umbringen und ich würde mich bei diesem Mord irgendwie mitschuldig fühlen, denn ich wusste davon.

„Verdammt, was ist eigentlich in dich gefahren? Du hast keine Ahnung wen und warum er diesen jemanden umgebracht hat. Es hätte genauso gut Notwehr sein können, du weißt doch, dass es in dieser Gegend nicht um Gerechtigkeit geht. Wenn man hier jemanden tötet, ist es egal ob es aus Fairness war, wenn der Tote eine Gang hatte, ist man tot." Ich kann es mir nicht unterdrücken, sie anzuschreien, so knapp sind meine Nerven angespannt. Es macht mich komplett verrückt, nicht zu wissen wo sie Harry hinbringen. Was, wenn sie ihn quälen?

Melanie sieht mich an, als hätte ich gerade den Teufel persönlich hochgelobt.

„Wie bitte? Bist du bescheuert? ER HAT JEMANDEN UMGEBRACHT! Verstehst du nicht, er hat das Leben eines Menschen beendet."

Ich verstehe es. Und wie ich das tue. Schließlich", ich mache eine kurze Pause und schlucke hart: „habe ich das auch." Ich nehme mir gar nicht die Zeit, um ihre Reaktion zu beobachten, sondern renne einfach aus der Tür. Manchmal denke ich, dass sie in einer komplett anderen Welt, als ich lebt. Täglich werden hier Menschen erschossen, vor unsere Haustür und doch tut sie so, als wäre sie am wohlbehütetsten Ort der Welt und würde sich lieber umbringen lassen, bevor sie jemand anderem etwas tut. Wohl die schlechteste Einstellung, welche man hier haben kann. Denn die erste Regel lautet:

Schieße, bevor du erschossen wirst.

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Und jetzt halt seine Stimme in meinem Kopf wieder, die meines Vaters.

Er wiederholt den Satz immer wieder leise, aber deutlich. Wir sitzen hinter einem hervor geschobenen Kasten und bereiten uns auf die Schießerei vor. Ich bin gerade mal 9 und zittere so stark, dass mir fast die Waffe aus der Hand fällt. Doch ich weiß, dass dies nicht passieren darf. Es wäre mein Todesurteil. Und BANG, der erste Schuss fällt.

Ich merke wie mein ganzer Körper zusammensackt bei den Erinnerungen an diesen Tag. So lange habe ich es verdrängt, doch diese Situation mit Harry lässt sie alle aus den tiefen Ecken meines Gehirns hervorkriechen und mir die Luft zum Atmen nehmen. Ich kann nicht anders, als mich einfach fallen zu lassen. Ohnmächtig, mitten auf der Straße.

„Okay hör zu, du musst jetzt rennen. Wir haben keine Chance, es sind zu viele. Du passt durch das Kellerfenster. Ich liebe dich Sohn, jetzt verschwinde." Ich atme tief ein und aus. Auch wenn es meinen Tot bedeutet, bin ich viel zu loyal, um meinen Vater hier alleine sterben zu lassen. „Ich gehe nirgends hin!"

Etwas Weiches ist unter mir, doch ich bin zu schwach um mir darüber Gedanken zu machen. Schließe einfach wieder meine Augen und lasse meine Gedanken mich umbringen:

Ein giftiger Duft, dann werde ich ummächtig.

„Na Kleiner, dann wollen wir mal sehen, wie viel wir aus deinem Vater herausbringen, wenn wir ein wenig mit dir "spielen". " Ich bin zu benommen, um mir Gedanken über die Worte des Mannes zu machen. Das Einzige, was meine Sinne schärfen lässt, sind die Schreie. Sie brüllen meine Namen. Die Stimme, ich kenne sie... Sehr gut sogar. Es ist die Stimme meines Vaters. Und schlagartig sehe ich alles wieder scharf. Ich bin vermutlich in einem Keller. Festgebunden an einen Betonblock, mein Vater sitzt gegenüber von mir. Sein Gesicht ist komplett zerstört und auch der Rest seine Körpers gleicht einer Leiche. Sie haben ihn gequält, nicht umgebracht. Er muss etwas wissen. Etwas sehr wichtiges. Jetzt kommt der andere Mann in den Raum. Er hat eine Eisenstange in der Hand. Ich weiß, was er tun wird, schließe meine Augen und bereite mich auf den fürchterlichen Schmerz, der mir bevorsteht, vor. 

Wobei fürchterlich gar nicht beschreibt, was diese Männer in dieser Nacht mit uns machten.

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Schreiend springe ich auf und plötzlich weiß ich es. Ich weiß, warum dieser Tag ausgerechnet jetzt wieder hochkommt. Die Männer, sie hatten das gelbe Bandana um den Hals und sie hatten diesen Schlagring. Genau wie die Männer, die Harry mitgenommen haben. Er hat Probleme mit der gleichen Gang, welche damals meinen Vater und mich fast umgebracht hätte.

Hektisch sehe ich mich um. Ich bin zu Hause, aus der Küche kommt ein Klappern und Gefluche.

„Mo-m?" Ich kann meinen Augen nicht trauen, als ich sehe, wie meine Mutter in der Küche steht und das Geschirr abwäscht.

„Louis du bist wach. Zum Glück, was ist passiert?"

„Ich- warte du bist nüchtern? Oder hast du eine neue Droge entdeckt?"

„Es tut mir so wahnsinnig leid. Alles, ich habe alles zerstört," schluchzt sie sofort los.

„Weißt du, es hat mich aufgefressen, als dein Vater starb. Ich- nein, ich weiß, dass ich es nicht wieder gut machen kann. Ich habe einen Job und ich möchte, dass du weißt, dass du ab sofort immer mehr als willkommen bist. Mir ist klar, dass du mir nicht glauben wirst, aber ich werde alles, hörst du! Alles tun, um dir endlich eine normale Mutter zu sein und Chris wieder zu bekommen. Es ist, als wäre ich einem ewigen Loch gefangen gewesen, doch weißt du, ich habe heute etwas gesehen und es hat mich so bewegt, dass ich endlich begriffen habe, dass ich schnellstmöglich aus diesem Loch kommen muss.", meine Mutter weint mittlerweile fürchterlich und bekommt die letzten Sätze nur schwer heraus.

Ich kann nur da stehen und diese zerbrochene Frau vor mir ansehen. Wie eine verbrannte Blume steht sie vor mir, völlig zerstört vom Leben. Und mich trifft diese Erkenntnis so schmerzend, dass sich unzählige Tränen aus meinen Augen lösen. Jahrelang habe ich ihr an allem die Schuld gegeben, nie habe ich über die unfassbare Liebe nachgedacht, welche meine Eltern miteinander verbunden hat. Man konnte sie sehen und spüren, egal wo man war. Mein Vater, er hatte meine Mutter vor dem Selbstmord gerettet und ich habe sie einfach verurteil. Habe nicht darüber nachgedacht, dass mit dem Tot meines Vaters auch ihr eigenes Leben starb. Ich schluchze und hole danach wieder irgendwie Luft, denn es fällt mir unglaublich schwer, noch atmen zu können. Ich sehe es, sehe wieder, wie meine Mutter zusammengebrochen war, als die Polizisten an der Haustür standen und ihr sagten, dass mein Vater tot war. Und endlich erkenne ich, wie all die Farbe in ihren Augen verschwand, sie war einfach weg und sie war nie wieder zurückgekommen. Wahrscheinlich war der Alkohol ihre Farbe. Er hat ihr Farbe zurückgegeben, nicht die ihrer Augen, er hat nur einfach sie nicht mehr schwarz- weiß sehen lassen. Sie kommt auf mich zu, ihre farblosen Augen komplett unter einem Tränenschleier verschwunden. Zuerst legt sie nur ihre Hände auf meine Wangen, doch dann zieht sie mich in eine wahnsinnig innige Umarmung. Diese Umarmung hätte ich schon vor so langer Zeit gebraucht, aber es ist in Ordnung, denn sie gibt mir die Kraft alle auf einmal, die ich die letzten Jahre gebaucht hätte.

So stehen wir da. Klammern uns aneinander als würden wir ertrinken und ich kann endlich all die angestauten Tränen herauslassen. Endlich weiß ich, dass ich nicht alleine bin, mit dem Gefühl des Erstickens, wenn ich an meinen Vater denke.

Ich sehe wie sich eine kleine Knospe an der verbrannten Blume bildet. Sie wird aufblühen, dafür werde ich sorgen. Und nicht nur eine Knospe soll blühen, nein, unzählige. Ich weiß, dass es nur Knospen und neue Blumen sein werden, welche mein Mutter retten werden. Die alte Blume wird nie zurückkehren. Denn eine verbrannte Blume kann man nicht retten...


When A Lost Boy Gets Your Home ➢ Larry Stylinson ⚣Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt