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Ich stand zur Wand gelehnt vor den Doppeltüren der Klinik. Ungeduldig tippte ich mit meiner Schuhspitze auf den Boden und schaute auf meine silberne Armbanduhr. Sie war jetzt schon 10 Minuten zu spät. Daria kam raus. Mit einer geschmeidigen Bewegung richtete ich mich auf und hielt ihr den Blumenstrauß hin. Es bestand aus riesigen weißen Pfingstrosen und etwas Schleierkraut. Ihr Gesicht erhellte sich. Dankbar und gleichzeitig auch sehr verlgen nahm sie mir die Blumen entgegen und roch an ihnen.

" Danke, dass sind meine Lieblingsblumen!", hauchte sie.

Dank dem kleinen Abstecher zu ihrem Spind wusste ich auch das. An der Rückseite der Tür des Spindes hing ein gesticktes Taschentuch mit denselben Blumen darauf. Ich lächelte und führte sie zu meinem schwarzen Wagen. Zuvorkommend hielt ich ihr die Tür auf und stieg dann selbst ein. Wir fuhren in ein nobles Café in der Stadt. Es war direkt am Hafen von Baltimore gelegen, sodass man sogar bei schlechtem Wetter das Gefühl hatte, man würde draußen auf der einladenden Terasse sitzen.

Ich parkte vor den von außen blickdichten Fenstern und half Daria auszusteigen. Sie trug ein dunkelblaues Kleid und darüber einen beigen Trenchcoat. Ihre Haare trug sie dieses Mal offen. Wunderschöne blonde Locken fielen über ihre Schultern. Ich wunderte mich immer noch wieso mich diese Frau so faszinierte und an wen sie mich aus meiner Vergangenheit erinnerte.

"Hannibal"

Ihre Stimme holte mich wieder in die Realität und ich zog ihr ihren Trenchcoat aus und hängte ihn neben meinen Mantel an die Garderobe. Sanft legte ich meine Hand auf ihren Rücken und bugsierte sie zu einem abgelegenen Tisch. Wir nahmen nebeneinander auf einem kleinen Sofa Platz und bestellten zwei Cappuccinos. Ich spürte jetzt schon ihre immer steigende Verlegenheit bei meinen zuvorkommenden Gesten. Sie war das alles also nicht gewohnt.

"Wie kam es dazu, dass du in Frankreich studiert hast?" ,fragte sie interessiert.

Ich musste schmunzeln und überlegte wo ich mit meiner Geschichte am besten anfangen sollte ohne sie komplett zu verschrecken.

"Nach dem Krieg und meinem Aufenthalt in einem Waisenhaus fand der Direktor meinen Onkel, der zu dieser Zeit in Frankreich lebte. Leider starb er bis ich ankam, doch meine Tante Lady Murasaki nahm sich meiner an"

Ich bemerkte die Trauer die sich plötzlich in Darias Augen wiederspiegelte. Sollte ich sie nach ihrer Vergangenheit fragen?

Bevor ich es mir noch Recht überlegen konnte, kam eine Frau mittleren Alters auf uns zu und stellte wortlos zwei hohe Tassen auf dem Tisch ab. 

"Wie kamst du nach Québec?"

Leicht verblüfft sah sie mich an. Ihr Gesicht verblasste und nahm wieder eine traurige Mimik an.

"Als die Deutschen nach Russland marschierten, schickten meine Eltern meinen Bruder, meinen Cousin und mich mit meiner Tante nach Frankreich zu meiner Großmutter. Sie ist später mit mir nach Québec ausgewandert"

Ihre Augen wurden leicht glasig. Ich strich wie beiläufig über ihre Hand und blickte in ihre wunderschönen Augen. 

"Es tut mir Leid, wenn ich dich in irgendeiner Weise gekränkt oder verletzt habe. Ich denke wir teilen die gleiche Vergangenheit"

"Oh nein" , sie schüttelte den Kopf, "Das hast du nicht...ich bin nur etwas sensibel deswegen"

Ich nickte lächelnd. Sie musterte mich forschend. Ich hielt noch immer ihre Hand und strich mit dem Daumen über ihren Handrücken. Wir schauten uns einige Minuten in die Augen, bis Daria verlegen den Kopf senkte. Sie trank etwas von dem heißen Getränk und schaute sich im Raum um. Ich griff ebenfalls nach meiner Tasse und trank etwas davon.

"Wohnst du noch immer bei deiner Großmutter?"

Traurig schüttelte sie den Kopf.

"Sie ist vor 2 Jahren gestorben"

Ich gab mir eine mentale Ohrfeige. Von einem Fettnäpfchen ins nächste. Bravo Hannibal! Ich strich sanft über ihren Oberarm.

"Das tut mir Leid"

Sie blickte in mein Gesicht. Ich trank gerade den letzten Schluck meiner Tasse und stellte sie dann ab.

"Hast du Lust mit mir zu Abend zu essen? Ich könnte uns etwas kochen?"

Ich wollte mehr über sie erfahren. Über ihr Leben, ihre Vergangenheit und ihre Familie. Sie schien mit sich zu ringen.

"Ich weiß nicht so recht..."

"Ein gutes Essen ist immer eine hervorragende Gelegenheit sich besser kennenzulernen"

Sie schmunzelte.

"In Ordnung"

Lächelnd nahm ich ihre Hand und stand auf. Schnell legte ich noch einen 20 Dollar Schein auf den Tisch und nahm unsere Jacken.

"Das hättest du nicht tun müssen"

Fragend sah ich sie an.

"Du hättest nicht für mich bezahlen müssen"

"Das" ,ich strich sanft über ihre Wange, die sich wieder leicht rötlich färbten, "war selbstverständlich"

Wir stiegen ins Auto und fuhren zu meiner Wohnung. Ich hatte eine große 3-Zimmer Wohnung im obersten Stock. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock. Ich schloss die Wohnungstür auf und hielt sie Daria auf. Langsam schritt sie hinein. Bewundernd und gleichzeitig ehrfürchtig schaute sie sich um.

"Du scheinst nicht lange hier zu wohnen" , bemerkte sie lächelnd.

Sie lief durch den Flur und blieb vor meiner Holzkommode stehen. Ein altes Foto meiner Familie stand darauf. Mischa, Mutter, Vater und ich. Sie strich über den hölzernen Rahmen. 

Ich ging auf sie zu und legte meine Hände sanft auf ihre Schultern und nahm ihr ihren Trenchcoat ab. Ich hing unsere Jacken an die Garderobe. Sanft schob ich sie weiter in die Küche. Besser gesagt das Küchen-Wohnzimmer. Ich bat sie auf einem Barhocker an der Kücheninsel Platz zu nehmen. Dann holte ich ein paar Lebensmittel aus dem Kühlschrank und legte sie auf der Arbeitsplatte ab.

"Kann ich dir helfen?", fragte sie hilfsbereit und wollte schon aufspringen.

"Es ist mir lieber, wenn du mir zu schaust und mir etwas von dir erzählst", bemerkte ich freundlich. 

Es würde mir noch fehlen, wenn sie noch das Fleisch schneiden würde und ihr irgendwelche Ähnlichkeiten mit den Operationen auffallen würden. Ich musste unbedingt neue Nieren besorgen, denn langsam neigte sich mein ganzer Fleischvorrat zum Ende. Daria stützte interessiert ihr Kinn auf beide Fäuste. 

"Wo in Russland hast du gelebt?", fing ich das Gespräch an mit der Hoffnung sie lange genug mit ihrer Erzählung abzulenken.

"Geboren und aufgewachsen bin ich direkt in Sankt Petersburg. Mein Vater war Geschäftsmann und meine Mutter eine einfache Hausfrau. Wir lebten dort in einem riesigen Anwesen und ich hatte sogar einen kleinen Schäferhund namens Laika. Als der Krieg dann auch bei uns ausbrach, musste ich sie leider zurück lassen"

"Du vermisst diesen Hund, nicht wahr?"

"Oh...ich vermisse vieles von damals. Es schien alles so einfach als Kind. Ich habe das Gefühl, dass ich sogar unsere Flucht gar nicht so schlimm wahrgenommen habe als ich das jetzt tue", bemerkte sie geistesabwesend. 

"Das geht mir genauso", stimmte ich ihr zu und um das Thema wieder zu wechseln, fragte ich: "Was macht so eine wunderschöne junge Frau wie du in ihrer Freizeit?"

"Ich lese sehr gern. Am liebsten Dostojewski oder Tolstoi"

"Sobald man annimmt, das Leben der Menschheit könne durch Vernunft gelenkt und geleitet werden, macht man das Leben als solches unmöglich", zitierte ich.

Daria fing an zu lachen. 

"Du hast es gelesen?", fragte sie erfreut und etwas sprachlos.

"Es gehört nicht zu meinen Lieblingswerken, aber es ist trotzdem durchaus lesenswert", erklärte ich schmunzelnd.



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A monster like meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt