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Ich hatte gemerkt, dass ihm meine Antwort anscheinend nicht gefiel. Er war es bestimmt nicht gewohnt so schnell abgewiesen zu werden. Ich seufzte innerlich. Hatte ich überhaupt das richtige getan?

Es hatte sich so gut angefühlt. Ich hatte noch nie so etwas gespürt. Ein leichter Schauer überfiel mich. Ich schaute in Hannibals Augen. Man konnte wirklich nur schwer darin lesen und natürlich ließ er sich auch nichts anmerken.

"Es schmeckt wundervoll", lobte er mich, "Hast du einen Flaschenöffner für den Wein?"

Seine Stimme holte mich aus meiner Trance.

"Jaja, warte ich hole...", fing ich an und wollte schon aufspringen als er seine raue Hand auf meine legte und meinte: "ich hole ihn schon"

Mit der Flasche Wein in der Hand verschwand er hinter mir.

"Unterste Schublade rechts" , murmelte ich nachdenklich.

Kurz schlich sich ein misstrauischer Gedanke bei mir ein. Eigentlich war er mir immer noch fremd. Ich verwarf den Gedanken so schnell wie er gekommen war und lächelte Hannibal an als er mir das Glas reichte.

"Auf uns!", verkündete er, wieder an seinem Platz sitzend.

Ein wissendes Lächeln umspielte seinen Mund. Ich erwiderte das Lächeln und nahm einen großzügigen Schluck.

Süß, aber etwas trocken. 

"Wie fühlst du dich seit dem Vorfall?", fragte er plötzlich. 

Sogar bei dem Wort Vorfall schnürte sich mir schon wieder die Kehle zu und ich kam ins stocken. Hannibal schien es zu bemerken, doch sagte nichts dazu.

"Ich habe Angst", murmelte ich leise wie zu mir selbst. 

"Wovor?", hakte er weiter nach.

Ich antwortete weiter wie in Trance:"Davor, dass mich wieder jemand so hysterisch angreift"

Hannibal stand wieder auf und kniete sich vor mir hin. Er sah mich eindringlich an und dabei merkte ich erst wie präsent die roten Sprenkel in seinen Augen waren. Hatten sie jetzt plötzlich etwas Bedrohliches an sich?

"So lange ich in diesem Krankenhaus arbeite, verspreche ich dir, dass dergleichen nie wieder passieren wird", versprach er mit deutlichem Nachdruck. 

Ich nickte stumm und konnte trotzdem meine Augen nicht von seinen lösen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das was er sagte wirklich so ein würde. Ich hatte einem Menschen noch nie so geglaubt. Langsam merkte ich auch, dass mir schummrig wurde und es in meinem Kopf anfing zu dröhnen. War das wieder von dem ganzen Stress? Ich versuchte mir mit dem Massieren meiner Schläfen Abhilfe zu verschaffen, doch die Methode zeigte nicht seine gewohnte Wirkung. Normalerweise half mir das doch immer? Wie benommen, spürte ich jetzt wieder Hannibals warme Hand an meiner Wange.

"Es ist okay", flüsterte er sanft.

Was war okay? Innerlich gingen bei mir alle Alarmglocken an, doch ich spürte nicht den gewohnten Effekt. Weder meine Augen konnte ich jetzt noch aufreißen noch mich von ihm losreißen. Was passierte, denn mit mir? Noch bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, wurde es völlig schwarz um mich herum. 

Ich hörte das mir allzu bekannte Geschrei zwischen meinem Cousin und meinem Bruder. Schon wieder streiteten sich die beiden wer denn jetzt die größere Zinnsoldatenarmee hätte. Ich wunderte mich auch gar nicht mehr wieso meine Tante nur meinen Cousin haben wollte. 

"Petja, ich habe 20 Fußsoldaten, das sind immer noch mehr als du sie hast!", rief mein Bruder jetzt aufgebracht. 

Ich ließ mich von beiden nicht beim Zu herrichten meiner blonden Puppe stören. Papa hatte sie mir gestern mitgebracht. Sie war aus Amerika dort spielten die Mädchen nur mit so welchen Puppen. Glücklich kämmte ich durch das blonde dichte Haar. 

"Kommt ihr zum Essen?", rief meine Mutter uns.

Sofort war der Streit zwischen meinem Bruder und meinem Cousin vergessen und beide sprinteten wie vom Blitz getroffen in die Küche. Ich folgte beiden nur etwas gemächlicher. Der warme, wohlige Duft von Krautsuppe durchströmte meine Nase. Und Gebäck! Mama hatte sogar gebacken! Ich lief in die warme helle Küche und setzte mich auf einen der alten kunstvoll verschnörkelten Holzstühle. Die waren sogar noch aus der Zarenzeit!, beteuerte Mama immer. Direkt vor meinem Gesicht wurde ein tiefer Teller voll mit roter Krautsuppe abgestellt. 

"Und noch etwas Brot", lächelte meine Mutter warmherzig. 

Sie strich mir liebevoll über die Wange. Die Jungs hatten derweil schon angefangen zu essen. Ich schaute wieder auf den Kalender mit den witzigen Tieren darauf. Welches Datum hatten wir heute? Den 22. Juli 1939? Ich hatte dieses Jahr gelernt zu lesen, aber ich würde erst in zwei Jahren eingeschult werden. In diesem Moment wusste ich auch noch nicht wie sehr mich dieses Datum treffen würde. 

"Und wenn ihr fertig seid, gibt es noch Apfeltaschen für euch", verkündete sie. 

Ich griff nach dem großen Löffel um mir noch etwas Schmand in die Suppe zu tun als der vorherige Radiogesang von einer Eilmeldung unterbrochen wurde. 

"Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer gerade ereilt uns die Meldung eines Angriffes der Deutschen gegen das sowjetische Vaterland. Jeder Mann ab dem neunzehnten Lebensjahr wird dazu aufgefordert sich umgehend in seinem militärischen..." 

Den Rest hörte ich schon gar nicht mehr, denn meine Mutter hatte das gesamte Tablett mit den heißen Apfeltaschen fallen gelassen. Verschreckt blickte ich sie an. Auch Petja und mein Bruder taten es mir gleich. Hektisch begann meine Mutter die heißen Klumpen aufzusammeln. Weinte sie jetzt etwa? 

"Mamatschka?" , fragte ich verunsichert.

"Es ist alles gut, Daschinka", murmelte sie geistesabwesend, "alles gut"

Sie stand mit dem Blech vor mir und stellte es auf dem Tisch ab. Alles um mich herum verschwamm wieder und färbte sich schwarz. Die Silhouette meiner Mutter verschwamm in die meiner Großmutter, die jetzt vor einem älteren Ich stand. 

"Babuschka?", fragte ich jetzt sichtlich verwirrt, da ich mich ja bis eben noch in der Küche meiner Kindheit aufgehalten hatte. 

Die alte Frau reagierte nicht. ich trat näher an sie heran und strich über ihren Arm. In ihrer Nähe duftete es immer so vertraut nach Rosen. 

"Baba?", fragte ich jetzt mit mehr Nachdruck und wurde urplötzlich am Hals von Mrs. Duckson geschnappt. 

"Sie wissen gar nichts, Doktor Barker!", brüllte sie mich an. 

Ich versuchte verzweifelt ihren festen Griff mit meinen Händen zu lösen, doch es war als ob ich nicht Herr über meinen eigenen Körper war. Keine Schreie, noch nicht einmal einfache Laute entflohen meinem Mund. Ich wand mich unter dem festen Griff und drohte zu ersticken bis mich ein lauter Knall in die Realität riss. 

Ich schreckte hoch. Schweißgebadet lag ich in meinem Bett und atmete unkontrolliert. Panisch sah ich mich in meinem Schlafzimmer um und konnte nichts und niemanden Befremdlichen erblicken. Ich ließ mich wieder in die weichen Kissen sinken und arbeitete daran meinen immer höher schlagenden Puls mit einer kontrollierten Atmung zu dämpfen. Noch bevor ich wieder einschlafen konnte, quälte mich eine Frage: Wie war ich von dem Essen mit Hannibal in mein Bett gekommen?



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A monster like meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt