Kapitel 1

1.5K 40 15
                                    

Ich kann nicht mehr. Ich renne schon so lange, dass ich kaum noch meine Füße spüre, aber ich darf nicht aufhören. Die Monster sind immer noch hinter mir her und kommen immer näher. Äste streifen mein Gesicht und hinterlassen Kratzer. Ich spüre etwas warmes über mein Gesicht fließen. Blut. Egal, rede ich mir ein, ich muss weiter rennen. Ich beschleunige meine Schritte, oder besser gesagt ich versuche es, als ich schwere Schritte hinter mir wahrnehme.
Das war's wohl mit meinem Leben, ist das einzige woran ich denken kann. Vielleicht sollte ich mich dem Schicksal einfach stellen und hier und jetzt sterben.

Nein. Nicht so. Wenn ich schon sterben muss, dann nicht durch deren Hand. Also renne ich weiter, doch ich sehe keine Chance zu überleben. Außer ich...

Nein, ich habe mir geschworen, dass ich das nie wieder mache.

Aber was könnte ich denn jetzt noch machen? Gegen sie kämpfen? Nein. Ich habe keine Waffe bei mir.

Mich verstecken? Nein. Hier sind nur Bäume und hinter einem Baum würden sie mich sicher finden.

»Bleib stehen du verdammtes Mädchen!« schreit einer von ihnen aufgeregt.

Dann spüre ich wie sich scharfe Krallen in meine Schultern bohren und fange an zu schreien.

Ich setzte mich ruckartig auf und merkte, dass ich schwitzte. Nur ein Albtraum, es war nur ein Albtraum. Ich vergewisserte mich, dass ich mich immer noch in der alten Hütte befand und nicht draußen im Wald. Aus dem kleinen Fenster, oberhalb des Waschbeckens, konnte ich sehen, dass es draußen immer noch dunkel war. Wie lange ich wohl geschlafen hatte? Wahrscheinlich nur drei Stunden. Ich hatte schon ewig nicht mehr ruhig geschlafen. Jede Nacht wurde ich von Albträumen heimgesucht, dabei war Schlaf genau das, was ich am nötigsten brauchte. Aber auch nur der Gedanke ausschlafen zu können, war zu schön um wahr zu sein.

»Lynn?« Jim, mein kleiner, obwohl kleiner konnte man nicht mehr sagen, also: mein jüngerer Bruder, war aufgewacht und sah zu mir rüber. Ich schaute ihn an und bemerkte einen Hauch von Angst in seinen Augen.

»Albtraum?«, fragte ich.

»Ja,« sagte er durch zusammengebissenen Zähnen. »Ich hab geträumt, dass sie uns gekriegt haben und gerade dabei waren uns umzubringen.«

Beim letzten Wort versagte seine Stimme und er schaute auf den Boden.

»Hey.« Ich legte meine Hand auf seinen Arm, »Schon gut. Es war nur ein Albtraum.«

»Du hast auch schlecht geträumt, oder?«, sagte er mit monotoner Stimme. »Sonst wärst du nämlich nicht wach.«

»Ja, aber es war nur ein Traum«

»Aber sie könnten uns kriegen und uns umbringen. Irgendwann werden sie uns sicher finden,« seine Stimme zitterte leicht vor Angst und Wut.

»Jim, ich werde alles mögliche tun, damit das nicht passiert, und du auch. Außerdem sind wir gute Kämpfer und ich habe nicht vor es denen einfach zu machen uns zu schnappen,« sagte ich und versuchte ihn zu beruhigen. Meistens war er immer der Stärkere, obwohl ich älter war, und diesmal wollte ich diejenige sein. Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich eigentlich genauso dachte. »Versuch wieder einzuschlafen. Wir haben morgen einen weiten Weg vor uns«

Jim legte sich wieder hin und schlief sofort ein.

Er hatte nicht mehr den entspannten Gesichtsausdruck, den er früher, noch bevor sie von ihm wussten, immer gehabt hatte wenn er schlief. Jetzt war da immer ein Hauch von Sorge und Traurigkeit zu sehen.

Ich erinnerte mich an den Tag, an dem sich Mom und Dad gestritten hatten.

Ich wollte in deren Zimmer gehen, um ihnen meine Zeichnung von unserem Haus zu zeigen, aber als ich vor der Tür stand hörte ich wie Mom und Dad sich stritten.

»NEIN! Ich will das nicht glauben!« hatte Mom Dad angeschrien.

»Ich auch nicht Marice«, hatte Dad mit trauriger Stimme entgegnet, »aber es ist so. Ich würde alles tun um zu verhindern, dass Lynn diese Gabe, oder besser gesagt diesen Fluch, besitzt. Aber ich habe es diesmal mit eigenen Augen gesehen.«

»Nein! Du hast es dir doch nur eingebildet!«

»Ich wünschte ich hätte es, aber nach allen was passiert ist, ist es die einzige Schlussfolgerung die Sinn ergibt«

»Aber sie ist noch so jung.« Mom hatte angefagen zu weinen. »Und was ist mit Jim? Was wenn er es auch hat? Bei ihm passiert sowas doch auch ständig.«

»Hoffen wir, dass er es nicht hat. Mehr als hoffen können wir leider nicht.«

Ich hatte nicht gewusst, worüber sie sprachen, aber es hatte mir solche Angst gemacht, dass ich in mein Zimmer gelaufen war und angefangen hatte zu weinen. Mom hatte Dad noch nie angeschrien, auch als einer seiner Erfindungen mal unser Sofa in Brand gesetzt hatte.

Jetzt hatte nicht gewusst, worüber sie gesprochen hatten und es wäre mir eindeutig lieber gewesen, es nicht zu wissen. Diese Gabe, oder Fluch, - für mich eher ein Fluch - hat uns alle in Gefahr gebracht.

Ich wünschte, ich hätte Jim aus all dem raushalten können, aber es war schon immer klar gewesen, dass das nie möglich wäre. Früher oder später hätten sie ihn aufgespürt und ihn, wie mich, gejagt.


Gabe, oder Fluch?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt