Die nächsten Tage waren alle gleich. Insgesamt langweilte ich mich in der Schule, doch ich freute mich auf die Abende, wenn ich wieder mit Noah schrieb. Bis jetzt hatte ich schon einiges über ihn erfahren, doch im Prinzip kannte ich ihn gar nicht.
Er hatte zwei jüngere Geschwister, eine elfjährige Schwester namens Liza und einen achtjährigen, nervigen Bruder namens Tim. Er wohnte etwas außerhalb des Kaffs und reitete gelegentlich auf dem Hof seines Onkels, der direkt neben seinem Haus lag. Es beeindruckte mich, dass er reiten konnte. Bis jetzt hatte ich nur Mädchen von Pferden schwärmen hören, aber dass ein Junge ritt, fand ich schon cool.
Ich selbst hatte noch nie auf einem Pferd gesessen. Doch vielleicht würde sich das ja ändern.
Als wir dann beschlossen hatten, dass wir uns am Wochenende treffen wollen, war ich fast komplett aus dem Häuschen und lächelte nur noch dumm vor mich hin. Fragt mich nicht, wieso.
Nun war Samstag und ich saß schon seid einer viertel Stunde komplett angezogen in unserem Flur rum. Ich war, wie immer, viel zu früh. Er wollte mich bei mir zu Hause abholen, ich hoffte, dass er unser Haus überhaupt fand.
Ich trank einen Schluck Wasser und ging nochmal auf Klo. Und endlich klingelte er. Auf einmal wurde ich total aufgeregt. Ich würde ihn nun zum ersten Mal richtig sehen. Das im Bus zählte nicht wirklich. Meine Hand zitterte etwas, als ich sie auf die Türklinke legte, aber ich zwang mir ein Lächeln auf und öffnete.
Beruhigt stellte ich fest, dass sein Lächeln auch nicht perfekt war. Es war etwas schief, aber es stand ihm unglaublich gut. Man konnte kaum sein Gesicht erkennen, denn er war eingepackt in einen dicken Schal und eine Mütze. Bei der Kälte konnte ich das gut nachvollziehen, ich selber hatte mich auch eingepackt.
"Hi", sagte ich, während ich nach draußen trat und die Tür hinter mir Schloss.
"Guten Morgen", begrüßte er mich.
Er trat ein paar Schritte auf Seite, sodass mein Blick ungehindert auf das fiel, was direkt hinter ihm lag. Und ich erschrak ungewollt, denn an einen Seil, das er in seiner Hand hielt, war ein schöner, kleiner Holzschlitten befestigt. Ein Schlitten!
"Oh nein, du willst doch nicht etwa...?", fragte ich ihn überrascht.
Sein Lächeln verschwand. "Keine gute Idee?"
"Nein es ist toll!", rief ich, als ich mir ins Gedächtnis rief, wie toll es immer gewesen war, Schlitten zu fahren. Und ich merkte, wie sehr ich das vermisste und hatte augenblicklich unglaublich Lust darauf. Ich konnte mein Grinsen nicht verstecken. "Es ist perfekt."
Sein Lächeln erschien wieder und gleichzeitig unzählige Fältchen und Kringel um seinen Mund und die Augen, die sein Gesicht so natürlich und locker aussehen ließen.
"Sollen wir dann los?", fragte er.
Ich riss meinen Blick von seinem Gesicht los und lachte verlegen. Vielleicht hatte ich etwas zu lange geguckt.
Ich führte uns zu einer Wiese, weil er sich hier nicht so gut auskannte. Ich wohnte eher ländlich und er wohnte zwei Bushaltestellen weiter in der Stadt. Es war ein herrlicher Tag. Die Sonne schien von dem hellblauen Himmel und ließ den feinen Schnee glitzern. Die Luft war unglaublich klar, aber gleichzeitig war es so kalt, dass ich nach kurzer Zeit nicht einmal mehr richtig sprechen konnte.
Wir hatten leider nur einen Schlitten, also wechselten wir uns ab. Einer fuhr den Berg runter, der andere schob den Schlitten an. Es war wundervoll. Dieses Gefühl in mir drin würde ich nie wieder vergessen. Den Wind beim Herunterfahren, das Einfrieren der Haut, wenn ein Schneeball ungewollt den Nacken hinunter rollte.
Ich kam gerade mit dem Schlitten wieder oben an, als er mir plötzlich eine Ladung Schnee ins Gesicht warf.
Als erstes war ich zu erschrocken um zu reagieren, doch dann nahm ich eine Hand voll Schnee und warf sie auf ihn. Noah rannte weg, doch ich stapfte fleißig hinterher, bis ich ihn tatsächlich eingeholt hatte und mich auf ihn warf. Wir landeten in dem weichen Pulverschnee und lachten. Es war fast so, als könnte ich nie wieder aufhören. Doch dann drückte er meinen Kopf in den Schnee und ich musste den kleinen Schock überwinden.
Ich stand auf und rannte los.
"Fang mich!", rief ich, wie ein kleines Kind. "Wenn du mich schon so nass machen musst, musst du mich erst fangen!" Ich kicherte albern und sprang auf den Schlitten. Doch ich hatte nicht erwartet, dass Noah direkt hinter mir war und auch auf den Schlitten stieg. Schreiend fuhren wir den Berg hinunter. Der Schlitten wurde immer schneller, zu schnell! Krampfhaft hielt ich mich an Noahs Armen fest, bis wir unten waren und umkippten. Ich landete erschöpft auf ihm und lachte. Ich lachte und lachte, weil es so lustig war. Weil es so albern und in dem Moment doch so normal war.
"Mir ist kalt", sagte ich dann irgendwann, als ich mich beruhigt hatte. Wir lagen nebeneinander auf dem Rücken im Schnee und schauten zufrieden in den Himmel. Nach unseren rasanten Fahrt, hatten einige Mütter ihren Kindern gesagt, dass sie auf keinen Fall zu zweit fahren sollten. Aber so etwas gehörte doch dazu. Wo blieb der Spaß, wenn es kein Risiko gab?
"Lass uns zu dir nach Hause gehen. Ich spüre meine Finger auch nicht mehr", schlug Noah vor.
Also machten wir uns auf den Weg.
Bei mir zu Hause zogen wir unsere nassen Sachen aus. Meine Eltern waren nicht da, nur Paul hing irgendwo zwischen seinem Bett und der Kloschüssel, weil er letzte Nacht wieder feiern war. Im Gegensatz zu mir tat er das jede Woche. Jeden Samstagmorgen schwur er, nie wieder einen Schluck Alkohol zu trinken, jeden Freitagabend konnte er es kaum erwarten wieder betrunken zu sein. Ich ging nicht gerne auf Partys, höchstens Geburtstage. Ich weiß nicht, wieso. Ich war eher so einer, der Abends alleine im Bett lag und über das Leben nachdachte. Vorzugsweise mit einem Kuscheltier im Arm.
Ich machte uns Kakao und wir setzten uns in meinem Zimmer auf den Boden. Lange Zeit sagte keiner etwas. Ich war sehr damit beschäftigt wieder aufzutauen und meine Hände an der warmen Tasse zu wärmen, Noah schaute gedankenverloren aus dem Fenster.
"Das war ein schöner Tag", sagte er unvermittelt.
"Ja, das finde ich auch", stimmte ich ihm zu.
"Wirklich, so einen Tag hatte ich lange nicht mehr", murmelte er und mit einem Mal sah er traurig aus.
"Warum?", fragte ich, ohne nachzudenken, doch dann kam mir in den Sinn, dass ihm die Antwort vielleicht unangenehm zu sagen ist.
"Es läuft im Moment nicht so", sagte er nach kurzem Zögern. Das war's dann auch.
Als es dunkel wurde verabschiedete ich ihn an der Tür. Es war zwar noch recht früh, aber er sagte, dass er noch etwas zu erledigen hatte. Ich legte mich in mein Bett und, obwohl ich es noch nicht wollte, war ich so müde, dass ich kurz darauf einschlief.
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Alles, nur nicht das, was ihr erwartet
Teen FictionEs sind diese Tage, die alle so hassen. Diese Tage, die jeder kennt. Diese Tage an denen man sich wünscht, man könnte für immer in seinem Bett liegen bleiben und sich vor der Welt verstecken. Vor dieser schrecklichen Welt. Es sind diese Tage, die Gr...