Kapitel 6

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Ich stehe in einem Haus. Vor mir eine Frau anfangs dreissig, neben ihr steht ein kleiner Junge. Der vielleicht vier oder fünf ist. Der Blick, der Frau gleitet über mich hinweg. Sie sieht mich nicht.

Die Frau hat lange rabenschwarze Haare, leuchtend blaue Augen und eine Haut die sehr hell ist. Sie ist sehr schön. Der Junge neben ihr, muss ihr Sohn sein. Denn er sieht ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Die Frau hält einen Gegenstand in der Hand, den sie nun dem Jungen zeigt. Ich gehe etwas näher. Ein Buch. Ich versuche den Titel des Buches zu entziffern.

Es ist: „der Herr der Ringe". Aus diesem Buch hatte mir meine Mutter immer vorgelesen. Der Junge springt begeistert auf und ab und ruft: „Toll, kannst du mir jetzt jetzt gleich daraus vor-vorlesen?"

Dieser Satz ist wie ein Schlag ins Gesicht. Ich bin der Junge! Ich kenne niemand andern der diese Angewohnheit hat. Aber warum träume ich von diesem Tag? Die Frau, besser gesagt meine Mutter, lächelt mein jüngeres ich an. Eine Tür öffnet sich und eine tiefe Männerstimme ertönt. Der kleine Junge zuckt zusammen und versteckt sich hinter seiner Mutter. Ihr lächeln verblasst und damit auch diese Erinnerung. Ich schreie. Ich will nicht das diese Erinnerung endet. Gleichzeitig, will ich aber nicht den Rest dieser Erinnerung sehen.

Minoh weckt mich. „Nicky! Nicky wach auf!", ruft er. Ich schlage meine Augen auf und schaue somit direkt in seine. Er hat sich über mich gebeugt und schaut mich besorgt an. „Du hast geschrien", klärt er mich auf, dann legt er sich wieder neben mich.

„Möchtest du darüber reden?", fragt er sanft. Ich seufze und antworte: „Nein". Denn diese Bürde muss ich allein tragen, füge ich in Gedanken hinzu. Er brummt irgendwas und zieht mich dann an sich. Ich geniesse diese Nähe. Denn der einzige Mensch dem ich jemals nahe stand, war meine Mutter. Aber ich habe sie das letzte mal vor acht Jahren gesehen.

Ich frage mich oft ob sie sich noch daran erinnert wie sie mir Geschichten vorgelesen hat, oder wie wir zusammen in den Zoo gingen. Ehrlich gesagt weiss ich es nicht, doch ich hoffe, dass sie sich noch daran erinnern kann. „An was denkst du? Und sag jetzt nicht nichts", sagt der neben mir Liegende und blickt mich an.

Ich gebe mich geschlagen. „Ich habe an meine Mutter gedacht", gebe ich zu. Minoh merkt, dass mir das Thema unangenehm ist und gibt sich mit dieser Antwort zufrieden. „Wie spät ist es?", frage ich und breche die Stille. Er klettert halb über mich hinweg um zu seinem Handy zu gelangen.

„05:11 Uhr, ich glaube es bringt nichts mehr jetzt nochmals zu schlafen", meint er und steigt aus dem Bett. Ich bleibe liegen. Das Bett ist einfach zu bequem, zu warm und zu gemütlich. „Hier", sagt Minoh und wirft mir etwas ins Gesicht. Ich nehme das Geschoss in die Hände und begutachte es. Es ist ein T-Shirt. „Hast du nicht auch was schwarzes?", frage ich und krieche dann doch unter der Bettdecke hervor. Minoh wirft mir einen Blick zu der aussagt: Du brauchst gar nicht erst zu fragen. Das ist der Moment in dem ich realisiere, dass es ihm nicht gerade gefällt, dass ich nur schwarz trage.

Ohne rumzumeckern ziehe ich das alte Shirt aus und schlüpfe in das hellblaue von Minoh. Dann steige auch ich aus dem Bett. Ich sehe an mir herab und merke, dass ich gerade nur in einem mir zu grossen T-Shirt und Unterhosen da stehe. „Minoh", beginne ich langsam, „wo ist meine Hose?" Während ich das sage, ziehe ich das Oberteil ein Stück hinunter um mich nicht ganz so entblösst zu fühlen. Wortlos wirft er mir meine Hose zu, während er sich jetzt selbst umzieht. Eine Sekunde bleibt mein Blick an seinem nackten Oberkörper hängen, ehe ich mir die Hose anziehe.

„Wir könnten etwas an unserem Schulprojekt arbeiten", schlägt er vor. „Gute Idee, aber ich habe meine Kamera nicht dabei", gebe ich zu und drehe mich zu ihm. „Doch hast du. Vorletzte Nacht, da habe ich ausversehen deinen Rucksack mitgenommen, in diesem hattest du auch deine Kamera. Ich wusste gar nicht das die Wasserdicht ist", endet er und überreicht mir meinen Rucksack. Sofort drücke ich diesen an mich. Auch wenn es nur ein Gegenstand ist, habe ich trotzdem sowas wie eine emotionale Bindung zu ihm aufgebaut. Dieser Rucksack begleitet mich nun schon seit acht Jahren. Da ist das doch verständlich. „Wo willst du den filmen?", frage ich und schultere meinen Rucksack. „Ich dachte wir können heute die Sache mit den Lieblingsorten abhacken", erklärt er mir und öffnet seine Zimmertüre.

Ich nicke und verlasse sein Zimmer. Zusammen gehen wir zu seinem Auto und steigen ein. Wie vor ein paar Stunden schon, sitze ich auf dem Beifahrersitz, während er den Wagen startet. Ich sehe zu ihm rüber und frage: „Wo ist denn dein Lieblingsort?"

„Das wirst du gleich sehen", meint er. Ich krame die Kamera aus dem Rucksack und beginne die Umgebung zu filmen. Durch die herrschende Dunkelheit, dürfte nicht allzu viel zu erkennen sein. Aber das spielt keine Rolle. Nicht ein einziges Auto kreuzt unseren Weg. Die Ursache dafür, dürfte die Uhrzeit sein. Ich schaue aus dem Fenster. Um uns herum erkenne ich Wälder. Die Stadt haben wir schon vor ein paar Minuten hinter uns gelassen. Langsam ahne ich wohin er fahren möchte.

„Wir gehen zu den Klippen", stelle ich fest. Überrascht schaut er mich an. „Woher...", beginnt er. „Ich kenne alles hier in einem Umkreis von zehn Kilometern, glaub mir ich war schon überall," kläre ich ihn auf. Dann lächle ich ihn an. Er erwidert das Lächeln, konzentriert sich aber sofort wieder auf die Strasse. Nach ein paar Minuten sind wir an besagtem Ort. Der Wagen hält und springe sofort hinaus.

Ich liebe diesen Ort einfach, es ist nicht mein Lieblingsort, aber er kommt dem ziemlich nahe. Die Sonne geht langsam auf und es wird heller. Begeistert setze ich mich ins Gras und beobachte dieses Spektakel. Dann zücke ich die Kamera um wenigstens einen Teil filmen zu können. Minoh setzt sich neben mich und reisst mir die Kamera aus der Hand. „Läuft die? Ah ja, das rote Lämpchen blinkt. Also das ist mein Lieblingsort. Der Grund dafür ist selbsterklärend", sagt er und drückt mir die Kamera wieder in die Hand. Ich drücke auf den Ausschaltknopf und lege sie neben mich. „Wo ist eigentlich dein Lieblingsort?", fragt er und lehnt sich zu mir.

„Mein Lieblingsort ist da, wo niemand verurteil wird, für das, was er ist".

Nur weil du es bist (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt