57. Kapitel: Das 24 Türchen

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Weiße Schneeflocken am Fenster. Weiße Wiesen. Bäume. Straßen. Gerötete Nasen. Weihnachtsmänner auf Terrassen. Balkonen. Dächern. Süße, fleischige, schneeige Gerüche. Kalte Luft. Matschige Stapfen. Warme Jacken. Schuhe. Mützen. Schäle. Handschuhe. Weihnachtliche Musik. Kirchengesang. Kevin allein Zuhause. Disney eine Weihnachtsgeschichte. Der Grinch.
Solche zum Teil unrealistischen Assoziationen verknüpfte ich mit Weihnachten. Das Fest, das Familien zusammen brachte, und einem zeigte, was wirklich zählte. Die Familie selbst. Als ich klein war, wartete ich ungeduldig am Fenster, sehnsüchtig nach Schnee, Geschenken und dem gut riechenden, bereits seit zwei Tagen vorbereiteten Essen, welches Speichel im Mund zusammen laufen ließ. Ungeduldig sprang ich um meine Mutter herum, stempelte Plätzchen, verzierte sie. Häufig tauchte ich meinen Finger in die Bratensoße, in den Kartoffelpüree oder die Schokoladenglasur. Genüsslich leckte ich diesen ab bevor ich Sekunden später den Vorgang wiederholte und schnell in meinem Zimmer verschwand. Trauriger Weise schneite es in München so oft wie ich an meinen Fingern abzählen konnte. Und der Weihnachtsmann kam so schnell wie ich begriff nicht aus unserem nicht vorhandenen Schornstein, nicht durch die Garten- oder Haustüre und auch nicht mit Rudolf an der Leine. Trotzdem liebte ich Weihnachten wegen der vielen Geschenken und dem köstlichen Essen. Doch das Weihnachten auch anders verlaufen konnte, war mir bis zu dem Moment, als ich meinen Koffer in Harrys SUV packte, nicht bewusst.

,,Baby, hast du da Steine drin?'', fragte mich Harry unglaubwürdig und schubste meinen schwarzen Koffer tiefer in den Kofferraum seines SUV. Der Regen tropfte ihm auf seinen karierten braunen Mantel und die Regentropfen plätscherten in einem Tempo gegen die geschlossenen Fensterscheiben. Mit einem Ruck packte er seinen Koffer auf meinen, legte die Ikea Tüte mit den Geschenken in die Ecke und flüchtete gemeinsam zu mir ins Auto. Durchnässt saßen wir beide auf den bereits warmen Sitzen und warmes Gebläse wärmte unsere zitternden Körper. Ich beäugte mich im Spiegel und fuhr mir mit der Hand durchs Gesicht, um die Regentropen wegzustreichen und mein Makeup zu checken. Währenddessen zog Harry seinen Mantel aus und schmiss ihn auf die Rückbank.
,, Können wir losfahren oder hast du noch was vergessen?'', hackte mein Freund ironisch im weihnachtlichen grünen Pullover unter diesem er ein weißes Hemd trug nach und schaltete den Motor an. Statt ihm zu antworten, schlug ich ihm gegen die Schulter und ließ mich tiefer in den Sitz fallen. Schnell ging ich gedanklich noch einmal den Inhalt meines Koffers durch bevor ich erleichtert ausatmete und Harry beobachtete, wie er ausparkte und Sekunden später anhielt. Er hatte etwas vergessen. Mit einem vielsagenden Blick sprang mein Freund aus dem Auto während ich ihm lachend hinterhersang und schon mal eine Playlist für die Autofahrt zusammenstellte. Nach einigen Minuten saß mein Freund wieder durchnässt neben mir und in seiner Hand hielt er nichts anderes, als sein Telefon. Kopfschüttelnd nahm ich ihm dieses aus der Hand bevor mein Freund losfuhr und im Hintergrund leise Fleetwood Macs ‚, the Chain'' ertönte. Während ich dem angenehmen Sound der Stimmen und der Melodie zuhörte, sah ich träumend aus dem Fenster. Regentropfen hämmerten gegen die Fensterscheiben und auf die Motorhaube. Keine Weihnachtsmänner baumelten an Häusern oder Wohnungen. Kein Geruch nach Schnee lag in der Luft. Alles wirkte trostlos und man konnte keinen Funken Weihnachten wahrnehmen. Die Erwartungen an diesen Feiertag waren eindeutig zu hoch angesetzt. Und Filme versprachen mehr als sie halten konnten. Schmollend sah ich zu meinem Freund rüber, dessen mit Ringen gekleidete Finger im Takt gegen das Lenkrad trommelten. Neben seinen Oberteilen trug er eine schwarze Skinny Jeans und braune Lederboots. Seine nassen Haare hatte er sich in einen Zopf gebunden und nur einzelne Strähnen kitzelten den Kragen seines Hemdes. So leger und elegant konnte auch nur mein Freund aussehen. Meine Person trug einen schwarzen breiten Rollkragen Pullover, diesen ich in einen weißen Stoffrock reinsteckte, welcher mir bis zur Mitte der Oberschenkel ging. Dazu kombinierte ich meine schwarzen Spitzen High Heel Stiefel und meinen schwarzen Mantel. Meine Haare hatte ich mir nach hinten in einen leichten Dutt gebunden. Außerdem kombinierte ich schwarze glänzende Ohrstecker dazu und gab meinem Outfit durch den roten Lippenstift einen Farbkleks. Zu Beginn fühlte ich mich durch den weißen Rock unwohl, doch nach dem Harry mich mit strahlenden Auge gemustert hatte, wusste ich, dass das das richtige Outfit war. Manchmal sprachen Blicke mehr als tausend Worte. Auf jeden Fall fuhren Harry und ich mit schnellen Tempo auf der Autobahn als sein Auto Tank- und Scheibenwischwassermangel anzeigte und wir bei der nächsten Kreuzung auch schon rausfuhren. Genervt verdrehte Harry die Augen als er das zweite Mal an diesem Tage die warme Stube verlassen und sich in die nasse Kälte nach draußen begeben musste. Er tat mir so Leid, dass ich das Tanken für ihn übernahm und für ihn zahlen lief. Zwar wollte er mich davon abhalten, doch da ich sowieso was zum Knabbern haben wollte, kam mir der Einfall sehr entgegen. Mit schnellen Schritten und mit Harrys schwarzen Ledergeldbeutel in der Hand tigerte ich nach drinnen, um eine lange Schlange und viele Snackmöglichkeiten aufzufinden. Das warme Licht leuchtete auf das breite Sortiment an Schokolade, Chips, Gebäck und Gummibärchen und erschwerte mir meine Auswahl. Im Endeffekt griff ich nach einer Packung gesalzener Chips und einer Flasche Mineralwasser und bestellte Harry einen Becher schwarzen Kaffee. Das Scheibenwischwasser sah ich mir erst gar nicht an, da ich solche Angelegenheiten meinem Onkel überließ. Das ich einen Kaffee bestellt hatte, stellte sich als gewaltiger Fehler heraus. Zuerst war das Wasser leer. Dann die Kaffeebohnen. Und die Pappbecher mussten erst mal aufgefüllt werden. Nach zehn Minuten verließ ich genervt die Tankstelle und sprintete zu Harrys Wagen aus diesem er mich genervt beäugte und meinen Bewegungen folgte. Doch als er den Kaffee in die Hände nahm und daran nippte, war jegliche schlechte Laune verschwunden und er griff genüsslich in die Chipstüte hinein. Doch diese gute Laune hielt nicht lange an. Gerade als wir wieder auf die Autobahn bogen und einige Meter fuhren, standen wir in einem Stau, der sich über zehn Kilometer vollzog. Ich wusste, dass Harry am liebsten losgeflucht und mir die Schuld in die Schuhe geschoben hätte. Immerhin musste ich erst einmal in Ruhe einkaufen gehen. Zu meiner Überraschung tat er dies aber nicht und versenkte seine schlechte Laune mit seinem Pappbecher. Während wir in Schritttempo fuhren und der Regen weiterhin gegen das Auto plätscherte, lauschten wir dem angenehmen Geräusch und der Musik. Da kam mir ein Einfall und ohne zu zögern erklangen auch schon die ersten Töne Joy Divisions ,,Love will tear us apart''. Harrys Blick sagte erneut mehr als tausend Worte und er drehte die Musik voll auf. Wir trällerten lauthals los, tanzten auf unseren Sitzen und überstanden mit weiteren Hits des Künstlers den Stau. Harrys Ausstrahlung erwärmte mein Herz und brachte mich zum Strahlen. Wie er von der einen Seite auf die andere wippte. Seine Lippen zum Text bewegte. Mit den Tönen spielte. Eine ernste Miene aufsetzte. Dann wieder grinste. Es machte mich so glücklich, dass ich mich mit jeder weiteren Minute, die verging, mehr traute lauter mitzusingen. Schlussendlich war es mir dann auch gleichgültig, ob ich schief, grell oder zu tief sang. Neben dem begnadeten Sänger zu meiner rechten konnte man sich sowieso nur talent – und sinnlos fühlen. Wir streiften Wälder, Bauernhöfe mir Kühen, Pferden und sogar Ziegen und erwischten an einigen Stellen sogar Rehe und Hasen, die über die feuchte Wiese sprangen. Vögel fliegen hoch am Himmel und kämpften mit aller Kraft gegen den starken Wind an, der die nackten Bäume zum Biegen brachte und ihnen die letzten trockenen Blätter entriss. Die Natur konnte grausam sein, dachte ich, als ich an einigen Stellen leerstehende, zerstörte Häuser wahrnahm auf dessen Dächern Äste oder sogar Bäume lagen und die Häuser zum Sturz drangen. Auf einmal nahm ich die ersten Töne eines deutschen Songs wahr und nahm die Gelegenheit an, Harry in die deutsche Sprache einzuführen. Schnell zappte ich mich durch Spotify und wartete gespannt auf Harrys Reaktion. Sein Blick sprach Bände als Mo-Dos ,,Eins Zwei Polizei'' erklang und ich mich im Takt bewegte. Kurz und knapp übersetzte ich den Refrain und animierte ihn dazu, mitzusingen, um etwas Deutsch zu lernen. Harry nahm die Herausforderung an und ich hielt die Daumen in der Hoffnung er könnte sich den Refrain merken. Das klang dann ungefähr so:

Version: Harrys Version:
Eins zwei Polizei Ainz Swei Polisei
drei vier Grenadier Drei Vier Grenanier
fünf sechs alte Gags Funf Sex old gags
sieben acht gute Nacht Siben Acht gut naht

Überrascht und belustigt applaudierte ich meinem Freund, der mit Vollgas auf der Autobahn fuhr und den Refrain so oft wiederholte, wie er im Song auftauchte. Es machte mir so viel Spaß Harry beim Lernen zuzusehen, dass ich ihn in weitere deutsche Klassiker einführte und ihm im Kern den Inhalt erklärte. Wir verbrachten mit der deutschen Musik Geschichte eine ganze Stunde in der wir sangen, tanzten und ich übersetzte bevor ich erschöpft und mit rauchendem Kopf wieder auf englische Musik setzte und die Landschaft beobachtete, die sich mit jedem weiteren Kilometer veränderte. Zuerst war sie grün, dann braun, und an manchen Stellen sogar weiß. Ich riss mich aus meinem Sitz und starrte auf die weißen Flächen, die sich immer mehr häuften und größere Flächen annahmen.
,, Oh mein Gott Harry, es hat hier geschneit!'', schrie ich glücklich und sah weiterhin gebannt aus dem Fenster. Harry lachte in sich hinein und streichelte meinen Oberschenkel mit seiner warmen Hand.
,, Bist du schon aufgeregt meine Familie kennenzulernen?'', ergatterte mein Freund meine Aufmerksamkeit und ich drehte mich mit meinem Gewicht in seine Richtung.
,, Um ehrlich zu sein, sehr. Ich versuche nur nicht daran zu denken, sonst kriege ich Herz rasen und meine Hände werden schwitzig. Bist du aufgeregt?''.
Harry lächelte auf meine Antwort bevor er erklärte:
,, Ich bin nicht aufgeregt meine Familie wieder zu sehen. Aber ich bin ganz schön nervös mit unseren beiden Familien Weihnachten zu feiern. Ich habe das noch nie gemacht und deine Mutter habe ich das letzte Mal gesehen, als wir noch nicht einmal zusammen waren und du mir aus dem Weg gegangen bist. Außerdem hat sie dich meinetwegen leiden sehen, da würde es mich nicht wundern, wenn sie mich hassen würde''.
,,Harry, meine Mutter könnte dich gar nicht hassen. Man kann dich nicht hassen. Außerdem könnte ich dasselbe über deine Mutter sagen. Du hast meinetwegen gelitten. Und nun sind wir wieder zusammen und glücklicher denn je. Ich denke wir sollten dem ganzen vorurteilslos eine Chance geben und hoffen, dass das Fest eine gute Idee war''. Als Antwort drückte Harry meine Hand und verschränkte beide miteinander. Mein Freund verließ die Autobahn und nach einigen Kilometern konnte man eine kleine Stadt in der Nähe eines Waldes entdecken. Wir streiften kleine Bäckerrein, Supermärkte und eine Kirche vor dieser ein großer grüner Tannenbaum mit einem goldenen Stern stand. Drum herum lagen viele Geschenke und eine Menschenmenge hatte sich versammelt. Der Chor sang unter warmen Mützen, Schälen und Winterjacken mit roten Nasen weihnachtliche Lieder und die Geschenke wurden weitergereicht an eine Männergruppe und verstaut in einem SUV. Harry erklärte, dass jedes Jahr zu Weihnachten die Bevölkerung in Holmes Chapel eine Spendenaktion startete und hilfsbedürftigen Menschen beziehungsweise kranken Kindern Geschenke gemacht wurden. Auch seine Familie machte jedes Jahr mit. Weiterhin beobachtete ich die vielen Häuser mit weihnachtlicher Dekoration und die Natur drum herum bevor Harry vor einem Gebäude aus Backstein parkte, aus dessen Dach grauer Rauch flog. Neben ihm parkten zwei Autos, das eine identifizierte ich schnell als Leihwagen und begriff schnell, dass dieses von meiner Mum und David sein musste. Ich spürte wie mein Herz raste und mein Puls sich gefühlt verdoppelte. Nervös sah ich zu meinem Freund rüber, der meinen Blick erwiderte und mich nervös anlächelte. Mit einem letzten Kuss und einem Händedrück stiegen wir zusammen aus dem Wagen und griffen nach unseren Jacken und Taschen. Mit zittrigen Beinen folgte ich Harry zur Tür und klingelte. Nun gab es kein Zurück mehr. Und das wollte ich auch nicht.

love, faith, hope | H.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt