Das Armband

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Eigentlich hatte der Tag schön angefangen. Die Sonne schien und es war so warm, dass ich schon am Morgen keine Jacke gebraucht hatte.

Wie gesagt „eigentlich“, denn dann kam der Schock. Ich saß gerade in Mathe, aber ich war nur körperlich anwesend, denn ich träumte vor mich hin und hörte nicht zu. Versonnen blickte ich aus dem Fenster auf das Meer. Am Meer war es immer windig und ich beobachtete die Wellen, wie sie aufbäumten, bis sie brachen und dann auf dem Strand ausrollten. Der Ozean war blau, kein schlammiger Farbton, der eigentlich doch eher braun ist, wie man ihn im Hafen findet. Es war ein klares Türkises blau, das in der Frühlingssonne glitzerte. Ich stellte mir gerade vor jetzt dort draußen zu sein und in der Brandung zu stehen. Fast konnte ich den Wind in meinen langen Haaren fühlen und die Wellen hören, wie sie tosend brachen, als ich plötzlich abrupt aus meinem Tagtraum gerissen wurde. Mein Mathelehrer stand direkt vor mir und sah mich fragend an.

„Louisa, ich habe sie etwas gefragt.“, Sagte er und funkelte mich mit seinen unnatürlich blauen Augen an. Er konnte es nicht leiden, wenn man sich nicht gebührend für seinen Unterricht interessierte, aber wenn man kein Genie in Mathe war hatte man bei ihm sowieso schlechte Karten.

Unruhig rutsche ich auf meinem Stuhl herum, dann wagte ich einen Vorstoß.

„Entschuldige, Mr. Burner“, sagte ich möglichst freundlich „Könnten sie ihre Frage vielleicht noch mal wiederholen?“ Mit Mühe versuchte ich seinem eisigen Blick standzuhalten.

Die Anspannung im Klassenraum war fast greifbar. Ich wusste, dass mich gerade der gesamte Kurs anstarrte. Mit Mr. Burner war einfach nicht gut Kirschen essen.

„Ich fragte sie gerade ob sie überhaupt für die Klausur gelernt haben, oder ob sie es nicht für nötig halten etwas anderes zu tun als zu malen?“, sagte er scharf und hielt das Blatt hoch, auch das ich eben ohne es zu merken lauter kleine Vögel gezeichnet hatte. Ich machte mich ganz klein auf meinem Stuhl. Ich stand nicht gern im Mittelpunkt und schon gar nicht negativ. Am liebsten wäre ich in einem Mauseloch verschwunden oder hätte mich in meinem Bett unter der Decke verkrochen.

Mr. Burner knallte mir meinen Klausurbogen vor die Nase und ging weiter zu Toby, der neben mir saß.

Ich traute mich gar nicht den Bogen zu öffnen. Mein Vater war sehr streng wenn es um Noten ging und etwas Schlechteres als eine zwei würde er mir wohl kaum durchgehen lassen. Angeblich hatte er früher überall nur Einsen, das behauptete er zumindest immer wenn ich mal wieder eine zwei geschrieben hatte. Meine beste Freundin Scarlett sage immer, dass sich für Noten nach der Schule sowieso keine mehr interessiere. Das hatte sie ihm auch mal gesagt, was wahrscheinlich auch der Grund war, wieso er sie nicht leiden konnte.

Die erste Seite meiner Klausur war fast gänzlich mit dem unbarmherzigen Rotstift meines Lehrers bedeckt. Am Rand standen überall gemeine Kommentare, wie: „Falsch, das ist Stoff der sechsten Klasse“ und „Minus mal Minus ergibt Plus“.

Mein Blick war starr auf das Papier gerichtet, als könnte ich es so verschwinden lassen. Ich nahm nichts anderes mehr war. Angst durchflutete mich. Mit zitternden Händen blätterte ich die Seite um und mein Blick viel auf meine Note. Ich hatte das Gefühl, das mein Herz stehenblieb.

Eine Sechs! Entgeistert starrte ich auf den roten Kringel, der mich vorwurfsvoll anzustarren schien. Mein Blick wurde unscharf, als mir die Tränen in die Augen stiegen. Ich blinzelte heftig und senkte den Kopf tief über das Blatt. Ich tat so, als würde ich mir eine Aufgabe ganz genau ansehen, damit niemand sah, dass ich weinte. Es war viel zu peinlich in der zehnten Klasse noch wegen einer Note zu heulen, aber ich konnte einfach nicht anders.

Sicherlich war mein Mascara ganz verschmiert. Vorsichtig linste ich auf meine Armbanduhr. Noch fast eine halbe Stunde, dachte ich resigniert. Das halte ich nicht durch. Was kann ich bloß tun?

AQUA - Stimme des Meeres (abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt