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Valentine,

heute war deine Beerdigung. Es war schwarz. Wir hatten alle schwarz angehabt, wie es für Beerdigungen normal ist, doch ich konnte das Gefühl nicht loswerden, das ich dich verriet. Du hast schwarz gehasst. Zwar standen überall bunte Blumen, doch es war zu schwarz. Ich könnte mir vorstellen, dass du dir gewünscht hättest, dass alle Leute bunte Klamotten getragen hätten. „Sonst wäre es so traurig", hättest du sagen können. „Dann seit ihr wenigstens bunte Trauerklöße." Doch so etwas hattest du nie gesagt. Wir hatten uns nie wirklich Gedanken über den Tod gemacht, ich meine wir sind ja erst sechszehn. Du wirst für immer sechszehn sein.

Valentine, wir dachten nie über den Tod nach, weil wir dachten, dass wir noch so viel Zeit hätten. Doch jetzt begreife ich auf einmal, dass wir eigentlich mit jeder verstreichenden Sekunde weiter auf unseren Tod zulaufen. Vielleicht haben wir alle ein Verfallsdatum. Ganz sicher haben wir das. Nur manche verderben nur leider früher als andere. Die schönsten und besten Dinge vergehen doch immer als erstes, war es nicht so?

Valentine, ich habe deinen Brief immer noch nicht geöffnet. Ich habe ihn zwar heute den ganzen Tag in meiner Anzugtasche mit mir herum getragen, doch ihn nicht geöffnet. Ich habe ihn immer wieder hervor geholt und auf deine schwungvolle Handschrift geschaut, mit der du meinen Namen geschrieben hast. Mit dieser Handschrift wird nie wieder auf ein Papier geschrieben. Deine Hand wird sie nie wieder bewegen. Deine Hände. Deine Arme. Du wirst nie wieder die Augen aufschlagen. Nie wieder den Mund verziehen. Du bist leer. Leblos.

Genauso hast du heute in deinem Sarg gelegen. In deinem grünen Lieblingskleid. Du sahst so friedlich aus. Mit einem Lächeln im Gesicht. Eher so, als ob du schlafen würdest, doch du hast nicht gemurmelt oder geatmet. Du sahst zu friedlich aus, als das dich ein Bus erfasst und dein Leben vorzeitig beendet hat. Das war alles nur Fassade. Eine Fassade, die dir auf dein kaltes Gesicht gelegt worden war, ob es dir nun gefiel oder nicht. Du must jetzt diese Fassade tragen, bis du kein Gesicht mehr hast. Bis dein Körper nicht mehr existiert. Und dieses Lächeln sah noch nicht mal aus wie deines. Es wirkte fehl am Platz. Fehl in deinem Gesicht. In deinem Gesicht sollte man nur dein Lächeln sehen. Dein Echtes. Das, was wir alle nie wieder sehen würden.

Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag, als ich dich dort liegen sah. In diesem Moment wollte ich nur schreien. Wie in den letzten Tagen auch. Ich hatte meine Hand ausgestreckt und dein Gesicht mit den Fingerspitzen berührt. Du warst so kalt. Dein Körper war so kalt. Kurz war ich in Versuchung das falsche Lächeln aus deinem Gesicht zu streichen. Doch in diesem Moment raubten mir der Schmerz und die Erkenntnis den Atem. Du würdest nie wieder kommen. Tief in meinem Inneren hatte ich immer noch gehofft. Selbst als ich dachte, die Hoffnung aufgegeben zu haben, habe ich noch gehofft. Doch so wie du da gelegen hast, verflüchtigte sich auch noch das letzte bisschen Hoffnung, dass ich gehabt hatte.

Leb wohl, Valentine.

Du hast nicht auf meinen verbrannten Brief geantwortet. Mir kein Zeichen gegeben, dass du ihn erhalten hast. Wie töricht von mir zu denken, dass ich mit einem verbrannten Brief, die Mauern zwischen der Welt der Lebenden und den Toten einreißen könnte.

Ich werde trotzdem nicht aufgeben. Diesen Brief werde ich auch verbrennen. Es gibt niemanden, der über mich lachen könnte, weil ich mich so dumm benehme, und selbst wenn, es wäre mir egal. Wenn auch nur der Hauch einer Chance besteht, dass ich eine Verbindung zu dir aufbauen kann, dann werde ich diese ergreifen.

Ich meine, es wäre ja nicht so, als ob man denken könnte, dass es in unserer Welt nur das gibt, was man sehen kann. Dafür gibt es zu seltsame Dinge, die passieren. Ich habe mich mal ein bisschen im Internet durch den Dschungel an Dingen über „Geister" gelesen. Das meiste ist so hirnrissig, dass ich mir Sorgen um das psychische Wohl der halben Weltbevölkerung mache, doch es gibt auch ein paar echt spannende Geschichten. Ich habe auch einen Artikel von einem Wissenschaftler gelesen, der meinte, dass man die Seele wiegen kann. Er hat Menschen vor und nach dem Tod gewogen und meinte dadurch, dass die Seele 21 Gramm wiegen würde, weil die Menschen soviel Gewicht verloren hatten. Doch dass hatte er vor 100 Jahren gemessen. Also generell bin ich mir da nicht so sicher, was ich glauben soll.

Aber der Gedanke, dass etwas von dir weiterlebt ist schön. Der Teil, der dich ausgemacht hat.

Ich werde die Hoffnung nicht aufgeben, Valentine.

Ich werde auf deine Antwort warten.

Wenn es sein muss, für immer. Spätestens wenn ich sterbe werde ich sie mir holen. Oder nicht. Kommt darauf an, ob man auf das Leben nach dem Tod vertrauen kann.

Ob man darauf vertrauen kann, dass ein ganzes Sein nicht mit einer unachtsamen Sekunde ausgelöscht werden kann. Das will und kann ich nicht glauben. Mir nicht vorstellen.

Aber genauso kann ich mir auch kein Leben nach dem Tod vorstellen. Ich kann mir nicht das Paradies vorstellen oder die Hölle, das schwarze Nichts, in dem man alleine umherschwirrt oder die Wolken voll mit all den toten Menschen aus den letzten Jahrtausenden. Ob Tiere wohl auch ein Leben nach dem Tod haben, wenn es das gibt, und wenn, sind sie dann mit den Menschen zusammen, oder haben sie ihre eigene Welt. Jede Tierart vor sich. Sonst müssten sie sich ja vor dem Tod fürchten, während sie Tod wären.

Aber falls wir ein Leben nach dem Tod haben sollten, warum dann nicht Tiere? Ich meine, eigentlich sind sie doch viel besser als wir. Sie versuchen nicht ihre Artgenossen zu töten. Also meistens.

Ich vermisse dich wirklich so sehr, wie du es dir nicht vorstellen kannst, Valentine. Wenn ich dass irgendwem anderes erzählen würde, würde er nur kopfschüttelnd weggehen. Du hättest mit mir den Gedanken weitergesponnen.

In 10 Tagen werden deine Eltern wegziehen. Es kommt mir falsch vor, dass sie ohne dich gehen. Ihnen wahrscheinlich auch, doch vielleicht ist es so besser für sie. Dann werden sie nicht überall, wo sie langgehen, schmerzlich an deinen Verlust erinnert. Ich kann hier noch nicht weg. Ich muss erst die Schule beenden. Dann kann ich vor diesen Geistern flüchten. Aus den Augenwinkeln habe ich ständig das Gefühl, dass du auf der anderen Straßenseite gehst oder irgendwo anders langläufst. Und dann ist der Schmerz da, ein überwältigender Schmerz, doch ich kann nicht vor ihm fliehen. Du bist überall. Überall in dieser Stadt, überall in meinem Kopf. Ich habe die letzten 16 Jahre fast jeden Tag mit dir verbracht.

Mich verfolgen Geister aus sechzehn Jahren. Noch zwei, drei Jahre, dann habe ich es geschafft.

Allerdings habe ich Angst. Angst dich zu vergessen. Deine Art, dein Lachen, alles. Ich habe Angst, dass genau das passiert, was ich überall sehe. Ein Geist. Halb verblasst in der Erinnerung der Leute. Das du in ein paar Jahren für viele an unserer Schule nur noch das Mädchen bist, was vom Bus erfasst worden ist. Das alle dich vergessen.

Selbst ich.

Deine Eltern werden dich nie vergessen. Dabei wäre es für manche wahrscheinlich besser, wenn sie vergessen könnten. Wenn der Schmerz in der Brust nicht mehr aufflammen würde, wenn man deinen Namen hört. Vielleicht wird es mit der Zeit ja leichter. Vielleicht kann man nicht vergessen, aber gleichzeitig keine Schmerzen empfinden.

Wenn nicht, ist mir der Schmerz lieber. Wenn nicht, dann halte ich lieber dem Schmerz stand als dich zu vergessen.

Keine Sorge Valentine, ich werde dich nicht vergessen. Niemals. Das schwöre ich.

Doch für einige Zeit muss ich aufhören Briefe zu schreiben. Ich merke, dass es mich zu sehr aufwühlt. Ich muss erst einmal klar kommen. Deinen Verlust verarbeiten. Dann schreibe ich wieder. Ich weiß nicht für wie lange das der letzte Brief seien wird, den du vielleicht erhalten wirst. Doch ich werde dir schrieben. Auch das schwöre ich dir.

Für immer dein Luke

(K)ein LiebesbriefWo Geschichten leben. Entdecke jetzt