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Ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen ist, ich habe aufgehört die Tage zu zählen. Sekunden, Minuten, Stunden ziehen an mir vorbei, ohne dass ich sie wirklich wahrnehme. Ich sitze die meiste Zeit auf meinem Bett und starre einfach nur die Wand an. Manchmal sitze ich aber auch vor deinem Grab und betrachte die Blumen darauf. Ich glaube es ist Mai. Welcher Wochentag ist wäre zu viel verlangt.

Ich glaube meine Eltern machen sich Sorgen um mich, doch ich nehme alles wie durch Watte war. Ich dachte, dass ich nach deiner Beerdigung abschließen kann, doch danach wurde es nur schlimmer. Seit deiner Beerdigung habe ich mich geweigert in die Schule zu gehen. Zwar zögert das den Moment heraus, indem ich endlich hier wegkomme, doch deinen leeren Platz zu sehen wäre zu viel für mich.

Inzwischen habe ich mich damit abgefunden, dass du diese Briefe nicht erhältst. Falls irgendwo noch etwas von dir ist, das diesen Brief erhalten könnte.

Kurzzeitig war ich so verzweifelt gewesen, dass ich überlegt habe einer Kirche beizutreten. Ich habe nichts gegen Gläubige, dass weißt du. Doch genauso weißt du, dass es wahrscheinlich keinen größeren Atheisten gibt als mich. Doch ich stelle es mir schön vor, an etwas zu glauben, was einem Kraft gibt. Manchen Menschen hilft der Glaube sosehr, dass sie Krankheiten besiegen können. Aber ich merkte schnell, dass es nichts für mich war. In der Kirche fühlte ich mich irgendwie unwohl, beobachtet und ich fühlte mich auch nicht sicherer oder getröstet.

Mittlerweile muss ich mir keine Sorgen mehr um den stechenden Schmerz in meiner Brust machen. Ich bin leer, betäubt. Ich sehe meine Hände an, die das hier schreiben. Ich weiß, dass sie zu mir gehören, doch so fühlt es sich nicht so an. Ich betrachte sie unbeteiligt, während sie meine Gedanken und Gefühle aufschreiben. Es ist angenehm sich keine Sorgen um Schmerzen machen zu müssen. Ich bin in Watte gepackt und betrachte nun alles mit ganz neuen Augen. Ich merke, in was für eine grausame Welt wir doch hineingeboren worden sind. Frage mich, ob wir sie hätten verbessern können oder sie schlechter gemacht haben. Ich merke, wie grausam und egoistisch die Menschen doch sind. Aber manche sind so voller Emotionen und Liebe. Wie du es warst. Solche Menschen sehe ich oft auf dem Friedhof, während sie schluchzend vor dem Grab eines geliebten Menschen stehen. Dann komme ich mir schlecht vor, wie ein Verräter, dass ich nicht um dich weine. Das ich einfach dort sitze und auf dein Grab starre. Regungslos. Wie eine Statur. Hin und wieder wünschte ich, dass ich genau das werde, eine Statur. Doch dann würde niemand hier den Gedanken an dich wahren. Und so sitze ich dann dort, mit dem Schluchzen fremder Leute im Rücken und denke darüber nach, was ich verloren habe. Dich. Ich gehe immer zu deinem Grab, wenn ich das Gefühl habe, dass die Erinnerung an dich verblasst, egal welches Wetter ist. Ich kann das Gefühl nicht ertragen.

Aber je länger ich über mein Tun nachdenke, desto mehr habe ich das Gefühl, dass ich auch langsam anfange zu verblassen. Dass ich eines Morgens aufwache und feststellen muss, dass ich unsichtbar geworden bin. Doch wer erinnert sich dann an mich? Und wer würde sich dann an dich erinnern? Ich weiß, dass auch ich eines Tages sterbe werde. Vor deinem Tod, hatte ich keine Angst und auch kurz danach nicht. Doch jetzt. Ich habe Angst, dass sich irgendwann niemand mehr an mich erinnert. Dass, wenn wir kein Leben nach dem Tod haben, wir nur in den Erinnerungen der Menschen die einen Lieben weiterlebt. Dass man lebt, solange sich jemand an einen erinnert. Aber was ist, wenn da niemand ist der sich an dich erinnert?

Was dann Valentine?

Werden wir irgendwann alle aus den Köpfen der Menschheit getilgt werden, solange wir nichts Besonderes, Beständiges hervor gebracht haben?

Werden wir einfach alle irgendwann vergessen...?

(K)ein LiebesbriefWo Geschichten leben. Entdecke jetzt