Mary

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Mary öffnet mir die Tür. Ich weiß, dass sie es ist, noch bevor sie grinsend vor mir steht. Ich erkenne sie an der Art, wie sie durch den Gang sprintet und die Klinke herunterreißt, wenn es klingelt. Das habe ich schon oft persönlich miterlebt.

Sie begrüßt mich wie immer mit einem Lächeln und den Worten: "Du bist spät dran, Ruby!" Wir wissen beide, dass ich nicht spät dran bin, im Gegenteil. Heute habe ich mir beinahe die Beine abgestrampelt, um von zu Hause zu entkommen.

Sie mag Weihnachten genauso wenig wie ich. Allgemein Feiertage. Deshalb bin ich an solchen eigentlich so ziemlich immer bei ihr.

Ich umarme Mary und drängle mich an ihr vorbei in den Flur. "Draußen ist es kalt!", meine ich. Sie nickt verständnisvoll, muss aber kurz lachen, als ihr Blick auf meinen Kopf fällt. Ich vergesse eigentlich immer meine Mütze.

Ich ziehe meine Jacke aus und schmeiße sie auf einen Haufen mit meinen restlichen Sachen. Nur den Skizzenblock, den ich vor meiner Abfahrt noch schnell eingesteckt habe nehme ich wie immer mit in Marys Zimmer.

"Und, wie unerträglich war dein Heiligabend?", fragt Mary mich, nachdem wir uns auf ihrem Bett niedergelassen haben. "Ziemlich!", meine ich und blättere die erste freie Seite des Skizzenblocks auf.

"Und bei dir so?", frage ich zurück, während mir auffällt, dass ich meinen Bleistift vergessen habe. Mary grinst und geht rüber zu ihrem Schreibtisch, während sie antwortet: "Erstaunlicher Weise aushaltbar. Die ganze Aufmerksamkeit war auf meinen Bruder gerichtet, so dass niemandem aufgefallen ist, dass ich die ganze Zeit Musik gehört habe." Sie grinst.

Musik. Dafür schwärmt Mary so, wie ich fürs Zeichnen. Sie reicht mir den Bleistift und holt sich dann ihre Gitarre.

Wie so oft sitzen wir nun da. Ich mit dem Skizzenblock und sie mit der Gitarre auf den Knien. Ich zeichne sie, während wir über Gott und die Welt sprechen.
Es klopft. Mary ruft: "Ja!" Die Tür geht auf und Frederic, Marys Bruder steht dahinter. Ich erschrecke total. Warum weiß ich auch nicht genau.

"Was ist, Freddie?", fragt Mary. Freddie, so nennen ihn alle. Selbst die Lehrer. Frederic ist ein Jahr älter als Mary und in der Sechsten durchgefallen. Deshalb habe ich auch Englisch mit ihm.

Freddie kommt rein und schließt die Tür. Dabei grüßt er mich kurz und wendet sich dann wieder an seine Schwester. "Was macht ihr so?", will er wissen. Mary schaut ihn schief an. "Sieht man das nicht?", fragt sie mit einem Seitenblick auf ihre Gitarre und meine Zeichenmaterialien. Er zuckt die Achseln.

"Ich wollte eigentlich nur wissen, ob du mein Physikheft noch hast", meint er schließlich. Mary nickt. Physik ist nicht gerade ihr Lieblingsfach, deshalb hilft Freddie ihr ab und an.

Ich schaue zu ihm. Er grinst. Er sieht irgendwie niedlich aus, wenn er grinst. Wie ein kleiner Hamster. Ich lächle leicht zurück. Wieso ist er nur immer so abartig fröhlich? Wenn das nicht so wäre, könnte man sich direkt in ihn verlieben.

Mary findet das Heft. Sie läuft zu ihrem Bruder und drückt es ihm in die Hand.

"Jetzt lass uns aber wieder allein!", meint sie. Er grinst erneut und verschwindet dann aus dem Raum.

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