Just a second

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Ich  entferne mich vom Vorsprung und gehe auf sie zu. Sie hat ihre Arme vor der Brust verschränkt und ihre Augenbraue hochgezogen als würde sie auf eine Antwort warten. Aber was soll ich denn großartiges antworten?

Plötzlich ist es mir unangenehm, dass sie mich dabei erwischt hat. Jedoch ändert es nichts an meinem Vorhaben, denn ich werde eine Möglichkeit finden nicht mehr länger Teil dieser Menschheit zu sein. Mit geringem Abstand schaue ich auf sie hinab.

Sie ist ein wenig kleiner als ich und ihre braunen großen Knopfaugen warten noch immer auf eine Art Antwort. Sie starrt mich an, sie starrt richtig, als würden ihre Augen durch meine hindurch schauen können, tief in mein Inneres. Ich sollte jetzt springen aber ich trau mich nicht, als hätte mich der Mut verlassen und wäre vom Wind fort getragen worden.

"Du bist nicht sehr gesprächig oder?", fragt sie mich und als Antwort, wie sollte es anders sein, zucke ich mit den Schultern. Ich war noch nie sehr gesprächig, denn Worte können schnell verletzen und ich kam noch nie wirklich mit Worten klar. Eigentlich ist es mir egal, ob ich andere verletzte, denn niemand hat je Rücksicht auf mich genommen, aber Worte waren noch nie wirklich mein Fall. Ausgesprochene Worte zumindest nicht. Plötzlich veränderte sich ihre Gesicht, ihre Gesichtsfarbe, ihre Augenbrauen, ihre Augen und ihr Mund in ein triefendes Rot, als wäre ihr das ganze Blut ins Gesicht geschossen. 

"Sag mal geht es dir noch gut?", sie klingt wütend. "Es geht mich eigentlich nichts an, aber was zur Hölle machst du hier oben? Sag mir nicht, dass du Suizid begehen wolltest. Das wolltest du doch nicht wirklich, oder? Man lebt nur ein einziges mal! Wertschätze dein Leben, denn andere Menschen würden gerne das Privileg annehmen welches man Leben nennt. Es gibt Kinder die Hungern, Eltern die für ihre Kinder kämpfen, Soldaten im Krieg und Menschen mit einem verdammten Handicap die ihr Leben in einem beschissenen Rollstuhl verbringen müssen und von anderen abhängig sind, aber sie leben und glaub mir, sie würden gerne tauschen wollen. Wieso, sag mir wieso?" 

Das war wirklich eine Ansage nur höre ich solche Ansagen viel zu oft und ich bin es leid. "Du hast Recht, es geht dich nichts an.", sage ich und verschwinde. Die ist doch gestört.. Nur unten angekommen weiß ich nun nicht mehr wohin. Ich will nicht nach Hause, in dem Haus indem ich lebe. Alles erscheint mir so unendlich trostlos. Der Nieselregen prasselt auf den Asphalt und durchnässt die Häuser der Straßen mit seinem Glanz. Es gibt keinen Fluchtort für mich, keine zweite Wahl.

Zu Hause angekommen scheint keiner im Haus zu sein. Wahrscheinlich ist meine Mutter wieder Einkaufen gefahren und ihr Lebensgefährte seinen Nachschub an Whiskey erneuern. Die Treppen des Hauses scheinen so unendlich lang und verloren, sowie ich mich verloren fühle. Ich schätze ich bin in der falschen Welt geboren, mit der falschen Familie in der falschen Umgebung. Ich sehe nichts gutes mehr, wenn ich ehrlich bin, dann kann ich mich nicht einmal daran erinnern, wann ich das letzte mal etwas positiv sah. In meinem Zimmer steht immer noch das weiße Bett mit dem schwarzen Bezug, meine Kleidung die auf dem Boden liegen vermischen sich mit dem Geruch des Eisens, das Fenster zeigt mir den Ausblick auf die Straße und auf den Glanz, welches der Regen mitbringt. Es ist kalt, unendlich kalt und ich fühle mich leer, ausgelaugt und müde. Dieses Haus fühlt sich nicht an wie ein zu Hause, dieses Zimmer fühlt sich nicht an, wie ein Ort der einem die Privatsphäre geben soll, dem jedem Menschen zusteht. Es ist so still..

Als ich den Schrei höre werde ich wach. Unglaublich, ich bin tatsächlich auf den kalten Boden mitten im Chaos eingeschlafen. Der Schrei wird zu einem bitterlichen schreien und schluchzen. Das kann doch nicht wahr sein. Ich renne so schnell wie mich meine Beine tragen und meine Lunge es zulässt. Es fühlt sich an, als würde ich gegen den Strom schwimmen. Alle Fische fliehen vor der Gefahr doch ich nicht. Ich renne ihr in die Arme, ich bin ihr schon immer in die Arme gerannt, jedoch hatte ich auch nie eine Wahl.

"Lass sie los!", brülle ich. Aber es ist fast als würde ich gegen eine Wand brüllen. "Ich habe gesagt, dass du sie loslassen sollst", sage ich verkrampft und spanne meinen Kiefer an. Ich bin nicht in der Verfassung etwas zu unternehmen und meine Mutter wollte noch nie, dass ich die Polizei benachrichtige. Er lässt meine Mutter los, stürzt sich auf mich und in mir breitet sich Panik aus. Die Panik, die man hat, wenn man fällt. Das Fallen in ein großes endloses dunkles Nichts.

Ich rieche den Alkohol und mit einem gekonnten Schubs seinerseits stehe ich an der Wand. Seine feste Hand auf meinem Brustkorb presst mich fester und fester gegen die Wand. Meine Schnappatmung setzt ein und ich wünsche mir einmal in meinem Leben, dass meine Gebete erhört werden. "Ja, dich brauche ich jetzt um meine Gelüste zu stillen", flüstert er mir ins Ohr und mich durchfährt eine Gänsehaut und keine von der guten Sorte.

Mein Herz pocht nun wild in meinem Brustkorb herum, dreht und wendet sich als wolle er das, was nun folgt, nicht mitbekommen. Mein Herz ist gefangen, sowie ich gefangen bin. "Nein..", höre ich meine Mutter flüstern doch mein Stiefvater tritt nach ihr. "Sei still, ich kann deine Stimme nicht ertragen", antwortet er barsch, schubst mich vor und ich weiß ganz genau wohin.

In solchen Situationen frage ich mich immer, ob die Nachbarn eigentlich nichts mitbekommen? Ich meine wir wohnen praktisch Haustür an Haustür und nie haben sie sich eingemischt oder ihre Hilfe angeboten. Aber ich bin mir sicher, dass sie mehr wissen als mir lieb ist. Jedoch schauen Menschen meistens immer weg. Sie sehen nur das, was sie sehen wollen.

Er schiebt mich in das Gästezimmer, welches er nur für seine 'Gelüste' verwendet. Ein schäbiges altes Zimmer mit gelb tapezierten Wänden und einem Doppelbett. Er schubst mich hinein und ich lasse mich sofort auf das Bett fallen, versuche mich zu beherrschen, meine Tränen zurückzustecken und meine Atmung zu regulieren. Ich beobachte ihn und jeden einzelnen seiner Schritte. Ich will das nicht, will so vieles nicht und trotzdem bin ich hier. Es ist okay. Es ist okay. Es ist wie ein Mantra, es soll mir Kraft geben. Es sollte mir so oft schon Kraft geben. Ich habe aufgehört mich zu währen, denn desto schmerzhafter wird es.

Ich bemerke, dass er bereits die Türe abgeschlossen hat und mir nun seine volle Aufmerksamkeit gilt. Er zieht sich jedes einzelne Kleidungsstück erstaunlich langsam aus und nimmt sich den Gürtel aus der Kommode. Beim ersten Schlag zucke ich zusammen und höre meine Mutter gegen die Türe hämmern, beim zweiten Schlag versuche ich meine Tränen im Zaun zu halten, beim dritten Schlag fließen sie, beim vierten Schlag versuche ich mich zu währen, beim fünften Schlag erwischt es meine Schläfe, beim sechsten Schlag meine Lippe und ich schmecke Blut und beim 41. Schlag breche ich beinahe zusammen. "Oh nein mein Freund", höre ich ihn flüstern, "Der Spaß beginnt doch erst jetzt."

Meine Sicht verschwimmt immer mehr und ich fühle wie er mich dreht, wie er sich an meiner Hose zu schaffen macht und ich spüre plötzlich den unendlich und unerträglichen Schmerz, höre das Stöhnen und spüre meine Wut über meine Kraftlosigkeit. Aushalten Tony.. Plötzlich falle ich, ich falle in eine tiefe penetrant dunkle Schwärze.

Hurry, I'm fallin'.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt