9. Kapitel - San Francisco

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Die Nacht ist hereingebrochen und ich kann die dunklen Schatten unter Mitchs Augen nicht mehr ignorieren.
«Soll ich ein Stückchen fahren?», biete ich es ihm an. «Immerhin-», setze ich an. Immerhin wurde mir das Auto gestohlen? Immerhin habe ich keine Menschenkenntnis? «Immerhin bist du so nett und nimmst mich mit, falls du also ein wenig schlafen möchtest, übernehme ich gerne», beende ich den Satz und hoffe, dass es nicht albern klingt. «Du könntest mein Auto entführen», brummt er mit schläfriger Stimme. Es schwingt kein bisschen Ironie in seiner Stimme und ich bekomme Panik. «Du guckst wie ein gejagtes Reh», schmunzelt er. «Keine Angst, ich halte dich nicht für eine Diebin. Sicher, dass du das machen möchtest? Ich könnte tatsächlich ein wenig Schlaf gebrauchen», sagt er mit einem raschen Blick zu mir, der mir das Funkeln seiner Augen im Mondlicht offenbart. Es ist vergleichbar mit einer Galaxie. Als mir auffällt, dass ich zu lange geschwiegen, und ihn zu lange angestarrt habe, werfe ich ein schnelles «Kein Problem» in den Raum. Mitch deutet ein Lächeln an und hält Ausschau nach der nächsten Haltegelegenheit.

Ich bin überrascht, wie kalt es inzwischen geworden ist, als wir aus dem Auto steigen. Als ich gerade auf der Fahrerseite einsteigen möchte, spüre ich eine Hand auf meiner Schulter, die mich sanft zurückdrängt. «Lass uns kurz eine Pause machen», raunt Mitch. Er geht nach hinten und lehnt sich gegen die Tür des Kofferraums, die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben. Vorsichtig stelle ich mich neben ihn, völlig grundlos angespannt. Es ist eine Situation, die einer anderen ziemlich ähnelt, und doch fühle ich mich bei Mitch sicherer. «Sei ehrlich, was hast du in San Francisco vor?»
«Ich-», beginne ich, doch Mitch blickt mich plötzlich mit einer solchen Intensität an, dass es mir unmöglich scheint, zu lügen. Ich hole tief Luft. «Ich bin nur auf der Durchreise und San Francisco ist mein nächstes Ziel. Die Stadt entdecken, Fotos machen-», erzähle ich gerade, als er mich unterbricht. «Klassischer Fall von Touri», lächelt er mich durch die Dunkelheit an. Er ist um einiges größer als ich. «Das habe ich auch schon viel zu lange vor. Einfach loslassen und durch die Weltgeschichte reisen», erzählt er, während er starr in den Sternenhimmel blickt. «Ich wünschte, es hätte keinen Grund dafür gegeben», sage ich mehr zu mir, als zu ihm, doch wie das in solchen Momenten eben ist, hört er es trotzdem. «Lass mch raten», beginnt er, und wendet sich mir zu. «Dein Freund hat nach jahrelanger Beziehung Schluss gemacht?» Seine linke Augenbraue zieht er ein wenig hoch, und er sieht fast schon ein wenig siegessicher aus. «So eindringlich du mich auch ansiehst, schaffst du es doch nicht, mich mit deinem Blick zu durschauen», funkle ich ihn geheimnissvoll an, kann mir jedoch kein Lächeln unterdrücken. Und er erwidert es. «Mal sehen». Mitch beugt sich zu mir herunter und lässt unsere Gesichter immer näher aneinander kommen. Und er blickt mich einfach nur an. Obwohl es dunkel ist, kann ich erkennen, dass seine Augen mehrere Farbnuancen haben, die so sanft ineinander übergehen, dass es mir von der Ferne nie aufgefallen wäre. Im Licht der Sterne wirken sie zerbrechlich wie Glas. Obwohl er noch fast so etwas wie ein Fremder ist, habe ich nicht das Bedürfnis ihm die rote Karte zu zeigen und ihn um Abstand zu bitten. Es ist völlig ok so, mitten in der Nacht hinter einem Auto zu stehen und sich schweigend in die Seele zu blicken. Plötzlich habe ich tatsächlich das Gefühl, dass er gefunden hat, wonach er suchte, als seine Gesichtszüge verhärten.

Tagebuch einer AbenteurerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt