10. Kapitel - San Francisco

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Es dauerte nicht lang, nachdem ich mich hinters Steuer klemmte, bis Mitch einschlief. Seine markanten Gesichtszüge scheinen verschwunden zu sein, denn sie wirken plötzlich unglaublich weich. Fast hätte ich es gewagt, meine Hand auf seine leicht gerötete Wange zu legen, als ich mich daran erinnere, meine Aufmerksamkeit auf den Wagen vor mir zu legen, bevor ich ihm auffahre.
Endlich sehe ich es vor mir: Eine Silhouette, die sich unter dem rot-blauen Morgengrauen erstreckt. Ich habe es geschafft. Unbewusst breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Hätte ich Mitch nicht vertraut, würde ich jetzt noch immer obdachlos auf einer Autoraststätte sitzen. Eine unglaubliche Dankbarkeit breitet sich in mir aus, eine wohlige Wärme, die ich seit Meggies letzter Umarmung nicht mehr gespürt hatte. Meggie. Endlich konnte ich ihre Reise fortfahren. Auch wenn ich mir bewusst war, dass ich nur wegen eines Vorhabens hierher gekommen war, war es schön, Gesellschaft zu haben. Ich wünschte, das würde so bleiben. Doch San Francisco würde unsere Wege trennen. Wohin sollte ich denn jetzt eigentlich fahren? Ein kurzer Blick nach rechts verrät mir, dass Mitch noch immer schläft. Nur ungern wecke ich ihn jetzt auf, nachdem er uns Tag und Nacht durch den amerikanischen Verkehr gefädelt hat. Ich senke das Tempo und hoffe, dass er bald aufwacht.

Mit einer herrlich nach Bagel und frischen Donuts duftenten Papiertüte verlasse ich die kleine Bäckerei, die mir am Anfang der Stadt ins Auge stach. Mitch ist wohl gerade im seiner Tiefschlafphase, weshalb ich mir nun reichlich Zeit lassen kann, mir die amerikanischen Köstlichkeiten schmecken zu lassen. Hoffentlich hat er nicht gegen ein paar Krümel unterm Hintern.
«Stehen bleiben!», ruft eine aufgebrachte Stimme hinter mir und reist mich aus meiner Reverie. Rasch drehe ich mich um und beobachte eine wunderschöne junge Frau in einem langen, babyblauen Kleid, das um ihre schlanken Beine weht. Sie schlägt sich die Hände vor den Muns und sieht einem Mann hinterher, der gerade um sein Leben zu laufen scheint. Mit einer Handtasche. Soforr klingeln bei mir alle Alarmglocken. Beklaut zu werden ist wohl häufig in Amerika, doch ich wünsche so etwas wirklich niemandem. Diese Hilflosigkeit. Reflexartig stelle ich meine Tüte auf einen der Cafétischs vor der Bäckerei, ehe ich mich in Bewegung setzte. Selbst wenn sie wollte, hätte sie Frau ihren Dieb niemals in ihrem Kleid, das nicht viel Bewegung zuließ, erwischt. «Hey!», rufe ich, um die Aufmerksamkeit der wenigen Passanten auf unsere Hetzjagd zu lenken. Ich beschleunige, und ich habe das Gefühl, gleich über den Asphalt zu schweben. Er ist kein schlechter Läufer, vermutlich hat er sowas schon öfter gemacht. In letzter Sekunde biegt er um eine Ecke, hat jedoch nicht die Mülltonne beachtet, als er diese geradewegs umrennt. Unsere Entfernung ist zu groß, denn er rappelt sich rasch wieder auf und rennt weiter, jedoch habe ich nun erhebliche Nähe zu ihm gewonnen. Wir befinden uns in einer engen Straße ohne Abbiegemöglichkeiten und so versuche ich noch einmal, einen Zahn zuzulegen. Ich strecke provisorisch schon einmal meinen Arm aus und schließlich kann ich den Kragen seines Shirts zwischen meinen Fingern spüren. Ruckartig ziehe ich ihn zurück und er fällt mit dem Rücken vor mir auf den Boden. Ich weiß nicht woher ich das habe, aber um ihn an einer weiteren Flucht zu hindern, stelle ich meinen Fuß auf seine Brust, reisse ihm die Tasche aus der Hand und atme tief aus. Auf klackernden Absätzen kommt die junge Frau am Anfang der Seitenstraße an und als sie den Mann unter mir liegen sieht, atmet sie erleichter aus, während sie sich die Hand ans Herz führt. Ich lächle ihr ein wenig zu, bis direkt hinter ihr ein aufgebrachter Mitch mit seinen verschlafenen Augen auf die Tasche in meiner Hand blickt.

Tagebuch einer AbenteurerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt