Es ist der Kontrast der hell funkelnden Stadt zum düsteren Abendhimmel, der mich langsamer fahren lässt, um das Spektakel zu betrachten. Es ist kein Abend wie in Deutschland. Es fühlt sich anders an, wärmer irgendwie. Vielleicht liegt das aber auch nur an mir, an meiner ständigen Ohnmacht, mit der ich das Leben an mir vorbei ziehen ließ. Doch die Silhouette, die im Wasser unter der Brücke mit den Wellen davongetragen wird, sieht viel zu schön aus. Ich kann nicht anders, als meine Kamera zu zücken, um ein Foto zu schießen. Der erste Meilenstein ist gesetzt, die erste Erinnerung gemacht. Ich riskiere einen kurzen Blick auf die aufgeschlagene Karte, die auf dem Beifahrersitz liegt, und führe mir noch einmal vor Augen, welch langer Weg noch vor mir liegt. Während der letzten drei Stunden Autofahrt wurde mir zusehends bewusst, dass ich gerade alleine durch Amerika reise. Dass ich meine wütenden Eltern Zuhause zurückgelassen habe. Ich bin frei. Meine Flügel warten nur darauf, sich auszubreiten. Portland zieht mich in seinen Bann, als ich die Hawthorn Bridge überquere. Die unzähligen Möglichkeiten listen sich vor meinem inneren Auge auf. Plötzlich bin ich hellwach. Ich habe keine Verpflichtungen, keine Termine, niemanden, der mir etwas sagt. Ob das positiv oder negativ ist, weiß ich noch nicht. Da ich für diese Nacht kein Hotel gebucht habe, entscheide ich mich kurzerhand eine Bar aufzusuchen. Als ich an mir herunterblicke, überdenke ich meinen Plan noch einmal. Jogginghose und Strickjacke? So ungeschickt wie möglich versuche ich, mich in dem engen Auto umzuziehen. Jedoch in ständiger Angst, von einem Passanten angestarrt zu werden.
Es ist ziemlich voll für diese Uhrzeit, doch ich erblicke einen freien Platz an der Bar. Ich habe keine Lust, Gespräche zu führen oder gar Kontakte zu knüpfen. Ich möchte diese Nacht nur so weit wie möglich ausdehnen, um nicht allzu lang im Auto schlafen zu müssen. Die Frau hinter dem Tresen lächelt mich in ihrer Hektik freundlich an und bedeutet mir, einen Moment zu warten, ehe sie die nächsten Gläser füllt. Portland bietet so viel und ich habe noch rein gar nichts geplant. Schnell zücke ich mein Handy und suche nach "Sehenswürdigkeiten in Portland". Ich werde nicht fertig mit schauen, als ich plötzlich von einer rauen Stimme unterbrochen werde.
«Da sollten Sie auf jeden Fall hin», lächelt ein etwa dreißigjähriger Mann auf mich herab.
Lan Su Chinese Garden, lese ich auf meinem Display. Als Dank erwidere ich sein Lächeln, ehe ich mich weiter meiner Planung widme.
«Sie machen hier also Urlaub?», ertönt seine Stimme erneut.
«Indirekt.»
«Und was führt Sie dann hier her? Der Job?» Schön, wenn es so wäre. Zu meinem Glück wendet sich die Bardame nun an mich, und erspart mir somit eine Antwort. Sie sieht mich erwartungsvoll an, bis ich einen Cocktail bestelle und sie hastend wieder verschwindet.
«Wenn sie wollen, kann ich Sie gerne einmal durch die Stadt führen», plötzlich legt er seine große Hand über mein Handy. «Und Ihnen die wahren Schätze dieser Stadt zeigen», fährt er fort. Lächelnd starre ich ihn an, während ich seine Hand langsam von meinem Handy auf den Tresen bewege. «Vielen Dank, aber nein». Ich nehme einen großen Schluck meines Cocktails und hoffe, dass ich nicht noch einmal gestört werde. Es sieht so aus, als könnte diese Reise anstrengend werden.
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Tagebuch einer Abenteurerin
AdventureDie 21-jährige Anna nimmt kurzerhand Reißaus, als ihre kleine Schwester an einem Herzfehler stirbt. Ihre Mission ist nicht einfach, und doch findet sie somit einen Weg loszulassen. Auf ihrer Reise durch Amerika begegnen ihr tausende neuer Dinge, die...