Die Gala

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Schritt. Lächeln. Winken.

Schritt. Lächeln. Winken.

Wie eine Mantra wiederholte ich diese Worte in meinem Kopf, während ich einen langen Schritt vor den Nächsten setzte. Dumpf hallten meine Absätze auf dem dicken Teppich wieder. Leicht sank ich in den festen Stoff ein. Die Kameras blitzten. Die Fotografen riefen mir etwas zu, doch ich konnte sie nicht verstehen. Die Stimmen bauten sich zu einer Wellenfront auf, die in rasend schnellen Abständen über mich hereinbrach. Es war unmöglich, auch nur eine einzige Silbe in diesem Orkan auszumachen. Die unterschiedlichen Laute verdichteten sich zu einem Einheitston. Einem ohrenbetäubenden monotonen Summen.

Wild bewegten die Fotografen ihre Arme. Bedeuteten mir näher zu kommen. Sie wollten mich zum Stehenbleiben bewegen, doch wenn ich in den letzten Monaten etwas gelernt hatte, war es niemals stehenzubleiben; unter keinen Umständen.

Synchron bewegte ich meine Arme zu meinen Schritten. Das war das Einzige, das zählte. Ich musste nicht denken, ich musste funktionieren. Und wenn ich etwas beherrschte, dann das.

Ich nahm einzig die große steinerne Flügeltür wenige Meter vor mir wahr. Meine Gedanken galten dem Augenblick. Es war mir egal, was vor diesem Abend passiert war, es war mir gleichgültig, was nach diesem Abend passierte, denn was zählte, war dieser Moment.

Die Schwärze der dunklen Nacht umhüllte die Erde, doch nicht mich. Aberhunderte Scheinwerfer leuchteten mir den Weg. Über mir hingen die Sterne wie an einer zerrissenen Perlenkette.

Aus dem Inneren der ehemaligen Ballettakademie drang ruhige Musik. Hinter mir ertönte das laute Zuschlagen einer weiteren Tür. Die Stimmen überschlugen sich. Ich stand nicht mehr im ungeteilten Mittelpunkt. Trotzdem lief ich weiter, lächelte und winkte.

Entschwebte mit fliegenden Füßen dem Blitzlichtgewitter.

Ein großgewachsener Mann mit Fliege und Schnurbart stand in der Eingangshalle. Auf seiner linken Handfläche balancierte er ein großes Tablett. Die rechte Hand hielt er hinter seinem Rücken verschränkt und nickte mir zu.

„Miss Copeland", begrüßte er mich förmlich und reichte mir das Tablett. Dankend griff ich nach einem der bauchigen Gläser. Mit Entzücken sah ich, wie der Champagner sprudelnd gegen das Glas schlug.

Vorsichtig nippte ich an dem Getränk, hinterließ einen weinroten Abdruck an dem Rand und genoss das vertraute Kribbeln. Tausend kleine Stromstöße begleiteten den Champagner hinunter in meinen Magen.

Automatisch schloss ich meine Augen. Ich spürte den seidigen Stoff meines weißen Kleides auf meinen Schultern. In einer flüssigen Bewegung floss er meinen Körper hinunter. Zeigte ihn von seiner besten Seite.

Meine langen Haare waren in aufwendiger Kleinarbeit zu Locken eingedreht. Sie verdeckten die Hälfte des langen Rückenausschnittes, ließen aber noch genug Platz für Fantasien.

Bei jedem Augenschlag spürte ich das zusätzliche Gewicht der falschen Wimpern und des Lidschattens, doch es störte mich nicht.

„Copeland", ertönte in diesem Augenblick die helle Stimme meiner Modelkollegin Eleanor. Geisterhaft hallte mein Name von den hohen Steinwänden wieder, bis er mit einem Schlag verklang.

Sie schritt durch die Eingangstür und griff ebenfalls nach einem Glas Champagner.
„Eleanor", gab ich zurück und wartete, bis sie auf meiner Höhe war. Ich schloss sie leicht in die Arme, darauf bedacht, weder Champagner zu vergießen, noch Make-Up zu verwischen. Tief atmete ich den blumigen Geruch ihres Parfüms ein. Genießerisch schloss ich die Augen. Eleanor hatte eine feine Nase für Düfte, welche perfekt mit ihrem Eigengeruch harmonierten.

Würde ich die Augen einen kleinen Moment länger schließen, ich könnte dem Irrglauben verfallen, auf einer Blumenwiese zu stehen, umringt von Rosen, Goldmelissen, Vanilleblumen und Maiglöckchen.

Doch sobald ich die Augen wieder öffnete und mich von ihr entfernte, war die Illusion verschwunden.

Nichtsdestotrotz wurde jede von Eleanors Umarmungen zu einem magischen Moment.

„Du siehst hübsch aus", flüsterte sie, hakte sich bei mir unter und schritt mit mir gemeinsam durch die Eingangshalle, hinein in den großen Empfangssaal, der bereits von hunderten von Leuten belebt wurde.

„Du auch, Ela", antwortete ich und musterte ihr mitternachtsblaues Kleid, welches durch den schmalen, aber dennoch gewagten Ausschnitt bis zu ihrem Brustbein beinahe unpassend wirkte, aber auf Grund aufgestickter Pailletten im Dekolleté doch Eleganz ausstrahlte. Ihre langen braunen Haare hatte sie sich zu einer kunstvollen Flechtfrisur hochgesteckt und ihr goldener Lidschatten ließ ihre blauen Augen leuchten.

„Danke", sagte sie und drückte leicht meine Hand.

Gemeinsam steuerten wir einen Tisch in mitten des großen Saals an, an welchem wir unsere Freunde entdeckten.

Nun war es an dem Zeitpunkt, an dem wir Spaß haben konnte.

Fotografen waren außerhalb der Reden nicht zugelassen und so fiel die Last, unter konstanter Beobachtung zu stehen, mit einem Schlag ab.

-

Ich wusste nicht, was geschehen war, doch ohne Vorwarnung, fand ich mich Kopf an Kopf mit einem jungen Mann und einem paar grauer Augen wieder.

„Huch", kicherte ich und hielt mich an dem dunklen Stoff seines Anzugs fest. „Entschuldigen Sie."

Verlegen biss ich mir auf meine Lippe. Das Brummen in meinem Schädel nahm mit jeder Stunde und jedem Glas Alkohol zu, doch ich konnte nicht aufhören. Der Abend war so amüsant; meine Freunde hatten einen großartigen Humor. Ich konnte ihnen stundenlang zuhören.

„Nein, entschuldigen Sie, ich war in Gedanken", sagte der Mann, obwohl wir beide wussten, dass es meine Schuld war. Vorsichtig löste er seinen Arm von meiner Schulter, als wollte er überprüfen, ob ich gerade stehen konnte.

Ich lächelte ihn an und er lächelte zurück. Für einen Moment sagte keiner etwas. Ich starrte neugierig und leicht benebelt in die grauen Augen, die mir in diesem Augenblick wie ein großes Abenteuer vorkamen. Eines von denen man wusste, dass man sie bis an sein Lebensende nicht vergessen würde.

Leise spielte ein Orchester. Die Gespräche der anderen Menschen lullten mich ein.

„Ich bin Copeland", sagte ich schließlich langsam. Meine Zunge schien an meinem Gaumen zu kleben. Die Worte kamen zäh aus meinem Mund, fühlten sich fremd an. Wenn ich betrunken war, fiel es mir schwerer, nicht meinen wahren Namen zu nennen. Mir fehlte das Verständnis für diese Maßnahme, doch tief in mir wusste ich, dass ich es mir, wenn ich wieder nüchtern war, nicht verzeihen konnte, meine richtige Identität verraten zu haben.

Tief in mir wusste ich, dass es besser war, wenn ich mich frei in der Zauberwelt bewegen konnte, ohne mit Copeland in Verbindung gebracht zu werden.

Doch tiefe Ahnungen missfielen mir, wenn ich mich meinem Körper nicht mehr zugehörig fühlte.

„Ich weiß", antwortete der Mann lächelnd. Seine Augen leuchteten heller als jeder Stern. Eine kleine Narbe zierte seinen rechten Mundwinkel. Ich hatte das dringende Bedürfnis, meine Hand nach ihr auszustrecken und sie zu berühren. „Mein Name ist Draco."

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