Geteilte Ängste

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Die Sonne bildete goldene Teiche, in welchen ich mich verlor, während ich mit Eleanor durch die kleinen Gassen der Londoner Altstadt schlenderte.

„Cope", begann meine Freundin urplötzlich und griff nach einigen stillen Minuten nach meiner Hand. Überrascht blieb ich stehen, während der warme Spätsommerwind über meine nackten Beine strich und den Saum meines Kleides zum Flattern brachte. „Cope, ich ... ich habe Angst."

Ihre großen Augen bohrten sich in meine. Ich sah Unsicherheit in ihnen aufflackern, gepaart mit Furcht. Ihre Unterlippe bebte. Verzweifelt sah sie mich an. Mein Herz zog sich schmerzerfüllt zusammen, als ich sie so erblickte.

„Oh, Ela", ihr Spitzname, welchen ich selten gebrauchte, glitt mir ohne Zögern über die Lippen und ich schloss sie in meine Arme. Ihr blumiger Duft umgab mich, stieg mir tief in die Nase, während sich ihre Arme fest um meinen Körper schlangen, als fürchte sie, ich würde ohne ihr Zutun auseinanderfallen., wobei das genaue Gegenteil der Fall zu sein schien.

Vorsichtig strich ich ihr über den Rücken und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

„Alles wird gut." Ich drehte ihr Gesicht in meine Richtung, fuhr mit meinem Daumen über ihre Wange und wiederholte meine Worte: „Alles wird gut."

Ich wusste sofort, dass sie auf ihre nahende Ausreise anspielte.

Doch Eleanor presste nur ihre Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.

„Alles wird anders sein. Wenn ich in Amerika bin, wird dein Leben hier weitergehen, so, als hätte ich nie existiert. Es kommt mir so vor, als ob-"

„Aber Ela", unterbrach ich sie und starrte sie an. Ich konnte nicht glauben, was sie gerade sagte. „Wie kannst du nur denken, mein Leben würde so weitergehen, wie bisher? Wie kannst du denken, ich würde dich vergessen? Du bist der einzige Mensch, dem ich mein Leben anvertrauen würde. Ich habe Angst, dass du mich vergisst, wenn du erst einmal merkst, wie aufregend Amerika ist und wie langweilig ich doch bin." Die Worte purzelten unkontrolliert aus meinem Mund. Ich konnte nicht sagen, woher sie kamen; hatte ich bis zu diesem Moment immer verdrängt, was geschehen würde, wenn Eleanor umzog, doch diese Angst musste unterschwellig gewachsen sein; verdrängt von den Sorgen um mein Gewicht, welche mir gerade so unwichtig erschien, dass ich den Drang verspürte, laut zu lachen.

Doch stattdessen blickte ich Eleanor ernst an und versuchte in ihrem Gesicht zu lesen. Sie hatte ihre Lippen fest zusammengepresst, die Züge um ihren Mund waren verhärtet und ihre Augenbrauen zusammengezogen.

„Nein", hauchte sie. „Wie kannst du so etwas auch nur denken?"

Die untergehende Sonne tauchte die junge Frau in eine goldene Wolke des Lichts. Die Sonnenstrahlen reflektieren sich auf ihren Haaren. Ihr süßlicher Duft wurde von einem zarten Windstoß zu mir getragen. Ein kleines Lächeln stahl sich unbewusst auf meine Lippen. Noch nie sah Eleanor so schön aus, wie in diesem Moment. Eine unglaubliche Wärme und eine Art unterschwelliger Stolz erfüllte mich, als mir bewusst wurde, das dieser unglaubliche Mensch meine beste Freundin war und ich ihre Welt bedeutete, so wie sie meine.

Der Gedanke sie zu verlieren, schmerzte jedoch so stark, als würde mir mit der bloßen Hand das Herz aus der Brust gerissen werden. Die Realisierung dessen, dass uns nur noch einige Wochen blieben, trieben mir die Tränen in die Augen. Eine Art unbändige Angst überfiel mich, je länger ich darüber nachdachte und je länger ihr Schweigen andauerte. Meine Atmung wurde flach und mühselig. Es war eine Mischung aus purem Unglauben und Überraschung.
Ich hatte die letzten Wochen verdrängt, dass ich meine beste Freundin in kurzer Zeit für eine kleine Ewigkeit nicht mehr sehen würde. Ich begann zu zittern.

Und ohne den Drang kontrollieren zu können, warf ich mich in Eleanors Arme und vergrub mein Gesicht in ihrem Haar. Erstickte Schluchzer drangen aus meiner Kehle. Schluchzer, welche mich selbst erstaunten. Doch der Schmerz überwältigte mich. Der Druck der letzten Woche, gemeinsam mit der Angst meine beste Freundin zu verlieren, wenn sie ein neues Leben begann, entriss mir den Boden unter den Füßen. Über mir drohte alles einzustürzen und einen wahnwitzigen Moment hoffte ich, die Erde würde sich unter meinen Füßen spalten und mich verschlucken und nie wieder an die Schmerzen verursachende Oberfläche der Erde tauchen lassen, welche mich immer weiter vergiftete.

Die Freunde darüber, dass Eleanor noch in meinen Armen lag und ich ihre Wärme an meinem Körper spüren konnte, wurde von der Flut des nahenden Verlustes überschwemmt und es gab nichts, was Hoffnung am Ende einer dunklen Nacht versprach.

„Du musst nur ein Wort sagen und ich lasse den Vertrag annullieren", flüsterte sie mit gebrochener Stimme und verstärkte unmerklich den Druck ihrer mich umschlingenden Arme. „Ich würde meine Seele verkaufen, wenn du dafür glücklich bist. Copeland, das weißt du, richtig?"

Die Tränen brachten meinen Körper zum Zittern. Ihre Worte berührten mich tief in meinem Herzen, weil ich wusste, sie waren wahr. Ich nickte heftig und unkontrolliert und versuchte meine Atmung zu beruhigen. Meine Lunge schien bei jedem Atemzug zu zerbersten und Ersticken kam mir merkwürdig verlockend vor.

Ich hielt mich krampfhaft an Eleanor fest, als wäre sie mein Anker in der stürmischen See.

„Eleanor, bitte, deine Worte bringen um mich. Ich wünschte, du würdest bleiben, aber vielmehr will ich dich glücklich sehen. Oh Eleanor, du bist alles was ich habe, alles was ich liebe"

Aus weiter Ferne hörte ich das vertraute Klicken eines Fotoapparats, doch es störte mich nicht. Dieser Moment gehörte uns; meiner besten Freundin und mir.

Unsere Tage waren gezählt und jeder Moment ein kostbarer Schatz von unermesslichem Wert.

„Es ist nur ein Jahr", sprach ich weiter, nicht wissend, was ich sagen wollte. „Ein weiteres Jahr von denen, die noch vor uns liegen. Auch wenn wir es nicht zusammen verbringen können, auch wenn ich nicht sofort da sein werde, um dich in den Arm zu nehmen, falls du dir von einem Amerikaner den Kopf verdrehen lassen hast, auch dann werde ich immer an deiner Seite sein. Du musst nur ein Wort sagen und ich sitze in dem erstersten Flugzeug auf dem Weg zu dir. Aber Eleanor, stell' diese Entscheidung nicht in Frage. Würdest du nun ablehnen, wären all die Bemühungen und Anstrengungen, welche du die letzten Jahr unternommen hast, um diese Leiter zu erklimmen, umsonst gewesen."

„Um dich nicht zu verlieren, würde ich alles tun, Cope. Alles, ohne Ausnahme."

Sie löste ihre Arme von meinem, noch immer vom Weinen geschüttelten, Körper. Lange sahen wir uns an. Ihr Gesicht war gerötet und ihre Augen verquollen, doch für mich war sie immer noch der schönste Mensch, den ich je gesehen hatte.

Ihre Worte zauberten mir ein Lächeln auf die spröden Lippen. Kühlend fuhr der Wind über meine aufgerauten Wangen. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und nickte.

„Ich weiß, Eleanor, ich weiß."


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