1. Kapitel

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Langsam gehe ich durch diese fantastische Ausstellung und freue mich riesig, dass meine Bilder hier einen so großen Anklang finden. Ich hab es geschafft!

Die Reise durch die Galerien des Landes ist anstrengend und ich kann den Trubel hier noch immer nicht ganz mit mir in Verbindung bringen. Jede Woche ein anderes Hotelzimmer, eine andere Stadt.

„José, mein Lieber, wir haben fast keine Bilder mehr, die wir verkaufen können. Die letzten Fotos gehen weg wie nichts", höre ich Greta sagen, meine Agentin.

Ich habe eine Agentin. Eine Tatsache, die ich immer noch nicht ganz glauben kann. Der Ruhm ist über Nacht gekommen und ich bin ein wenig melancholisch heute. Hier, in New York, ist Greta der einzige Mensch, den ich kenne. Es wird Zeit, nach Hause zurückzukehren und wieder ein wenig zu arbeiten und mich mit Freunden zu treffen. Mit Menschen, die mich kennen.

Ein Abend mit Ethan, oder Ana und Kate. Ich vermisse sie und obwohl ich Ana ihr Glück gönne, gibt es mir nach wie vor einen Stich, dass sie sich gegen mich entschieden hat. Ich hatte immer geglaubt, wir würden gut harmonieren, aber sie liebt Christian und das kann ein Blinder sehen. Aber auch ich wünsche mir jemanden, und jetzt kann ich nicht mal mehr entscheiden, ob diejenige mich oder den berühmten Fotografen daten will. Ich gehe den weiblichen Wesen aus dem Weg, die ich auf den Ausstellungen treffe, genieße zwar die Aufmerksamkeit und ein wenig die Angebote, gehe aber doch jeden Abend allein auf mein Hotelzimmer. Ich will kein Groupie, ich will jemand, der mich versteht und den Menschen José sehen will.

Als ich am nächsten Tag aufstehe bin ich rastlos. Es war der letzte Tag der Ausstellung hier in New York und ich habe laut Greta heute mal einen Tag frei. Bevor wir zurückfahren stehen morgen noch ein paar Interviews an und dann werde ich meinen Vater besuchen – ein paar Tage zu Hause können nicht schaden. Irgendwie fehlt mir das fotografieren und so entscheide ich mich, New York auf eigene Faust zu erkunden. Schon lange habe ich nicht mehr wirklich gearbeitet.

Als ich nach dem Frühstück mit Jeans, dickem Troyer und meiner Kamera in die Stadt gehe, bin ich fast euphorisch. Endlich wieder ein wenig arbeiten, die Aufregung spüren, wenn ich ein perfektes Motiv oder eine einzigartige Einstellung sehe. Das fehlt mir am meisten. Ich streife durch die Wallstreet, gehe in den Central Park und fahre unzählige U-Bahn-Kilometer, aber zu meiner eigenen Verwunderung mache ich keine Bilder. Kein Motiv spricht mich an, nichts fasziniert mich. Kein Objekt weckt den Künstler in mir.

Frustriert fahre ich nach Brooklyn und lande gegen Abend auf Coney Island. Es ist spät im Jahr und viele Fahrgeschäfte haben schon geschlossen. Ich schieße einige unmotivierte Bilder und will schon wieder frustriert zurück ins Hotel, gereizt und schwer von mir und New York enttäuscht.

Als ich auf meinem Rückweg zur U-Bahn an einem Pier vorbei gehe, sehe ich aus den Augenwinkeln einen bunten Fleck – etwas, was die graue Umgebung förmlich auflockert. Neugierig betrete ich den Pier und halte nach einigen Metern inne. Das Wasser unter mir schlägt gegen die Stelzen und die Luft ist salzig und kühl. Eine junge Frau mit wunderschönen langen Haaren und blasser Haut steht vor einer großen Staffelei und malt. Obwohl sie aufs Meer hinaussieht, ist ihr Bild weder grau noch blau, sondern rot, gelb und orange. Ihr Kopf ist leicht geneigt und sie beobachtet etwas, was ich nicht erkennen kann. Das Wasser vielleicht oder eine der unzähligen kreischenden Möwen. Wie von selbst hebe ich meinen Fotoapparat an und beginne, diese Frau und ihr buntes, so ungewöhnlich und faszinierendes Gemälde auf diesem tristen Steg zu fotografieren. Mein Kopf entwickelt schon das Negativ, alles Schwarz-weiß, bis auf das Bild und das Haar dieser Frau. Das Klicken der Kamera nehme ich nicht wahr, während ich mich Meter um Meter nähere, ihre Hand ablichte, die filigran eine weitere blutrote Linie zeichnet, ein weiteres, als eine Möwe durch das Bild fliegt... ich laufe auf Autopilot, ganz von dem Motiv und seiner Gegensätzlichkeit gefangen.

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