Da sitze ich nun also, auf dem Fußboden im Büro meines Vaters und wühle mich durch eine ganze Reihe von Aktenordnern, auf der Suche nach den benötigten Unterlagen. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt an was man alles denken musste, wenn jemand verstarb. Selbst jetzt, fünf Wochen nach der Beerdigung, ist noch immer nicht alles erledigt und das obwohl mein Nachbar genau wusste was getan werden musste. Ich glaube Herr Hansen hat mich nur gebeten die Unterlagen für ihn herauszusuchen, damit ich eine Beschäftigung habe. Seit ich nicht mehr für die Abi Prüfung lernte, lag ich den ganzen Tag auf dem Sofa und las. Beim lesen war ich immer ganz und gar abgelenkt. Ich bekam um mich herum nichts mit und war ganz in die Geschichten vertieft, um die es in meinen Büchern ging. Was sollte ich auch in meiner trostlosen Realität, wenn es doch so viele schöne Orte gab, an die ich mich entführen lassen konnte.
Jetzt hier im Büro zu sein, war nicht so einfach. Ich glaube ich bin zuvor nie wirklich hier drin gewesen. Wenn mein Vater im Büro war wollte er nicht gestört werden und das habe ich respektiert. Ich habe höchstens mal in der Tür gestanden, wenn meine Mutter mich geschickt hatte, um meinen Vater zum Essen zu holen.
Ich schiebe die Gedanken an meinen Vater, wie er immer hinter demSchreibtisch gesessen hat beiseite und ziehe weitere Ordner aus dem Aktenschrank.
Als ich schon fast alles zusammen habe, fällt mir ein Ordner mit der Aufschrift Adoption in die Hände. Neugierig schlage ich ihn auf. Bisher hatte ich garnicht darüber nachgedacht das es von damals ja noch Unterlagen geben könnte. Außerdem hatten meinen Eltern mir ja alles was sie über die ersten vier Jahre meines Lebens wussten erzählt. Auch wenn das leider nicht allzu viel war.
Über meine leiblichen Eltern wusste ich nur das sie Uwe und Silke Hanke hießen und aus Köln kamen. Ich habe ein Foto von Ihnen in meinemZimmer stehen. Arm in Arm stehen sie dort auf einer grünen Sommerwiese zwischen tausenden Gänseblümchen und lächeln in die Kamera. Beide müssten auf dem Bild ungefähr Mitte zwanzig sein. Sie waren ziemlich gleich groß, schlank und hatten beide dunkles, schwarzes Haar. Die Haare meiner Mutter waren lang und fielen um ein hübsches, schmales Gesicht. Von ihr hatte ich die etwas mandelartige Form meiner Augen geerbt. Irgendein Vorfahre mütterlicherseits, musste wohl asiatische Vorfahren gehabt haben.
Mein Vater hingegen hätte locker als Italiener durchgehen können. Er hatte ganz kurzes Haar, war braungebrannt und hatte ein freundlich wirkendes Gesicht. Sie waren ein schönes Paar.
Erinnern konnte ich mich leider nicht mehr an sie, auch nicht an die zwei Jahre, die ich nach ihrem Tod im Kinderheim gelebt hatte. Bis auf den immer wiederkehrenden Albtraum von dem Autounfall, bei dem ich mir selber in die Augen sah, blieb mir von damals nur das Gefühl, nicht vollständig zu sein.
Ich blättere den Ordner durch und finde ein Stück weiter hinten meine Geburtsurkunde. Als ich sie aus der Klarsichtfolie nehme, um sie zu meinen persönlichen Unterlagen zu legen, bemerke ich ein Foto, welches hinter der Urkunde in der Folie steckt. Ich nehme es in die Hand um es genauer zu betrachten.
Es zeigt ein kleines, dünnes Mädchen, mit langen, schwarzen Haaren, das neben einem größeren Jungen steht. Das Mädchen bin ich, denJungen kenne ich nicht. Das Bild muss aus der Zeit im Kinderheim stammen, es gibt nämlich haufenweise Bilder von mir in diesem Haus,aber auf keinem davon bin ich noch so klein. Ich will es gerade wieder zurück in die Folie stecken, als mein Blick auf die Rückseite des Bildes fällt.
Lena Hanke und Kai Hanke, Sommer 1997
1997 war ich drei Jahre alt gewesen, der Junge neben mir war vielleicht zehn oder elf. Ich schaue ihn mir genauer an. Er ist schlank und hochgewachsen und hat genau die gleichen, tiefschwarzen Haare wie ich als kleines Mädchen, nur kürzer waren sie. Wir stehen vor einem großen, grauen Haus, auf den steinernen Stufen einer Treppe, die zu einer breiten Eingangstür hinauf führt. Der Junge auf dem Bild hält meine Hand und anstatt nach vorne in die Kamera zu schauen, lächelt er auf mich herab. Ich starre das Foto an und meine Gedanken überschlagen sich. Was hatte der gleiche Nachname zu bedeuten?
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Festival Sommer
RomanceEine Geschichte über ein Mädchen das alles verliert, aber genau aus diesem Grund etwas neues Gewinnt. Abgeschlossene Geschichte, ich wünsche allen viel Spaß beim lesen :). Einfach mal lesen, brauche ein wenig feedback! Wenn es euch gef...