Kapitel 2 oder Herz über Kopf

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Seine Hände fuhren sanft über mein Gesicht und spielten mit den goldbraunen Haarsträhnen. " Ich liebe dich. Mehr als alles andere auf der Welt. Wir sind füreinander bestimmt", hauchte er in mein Ohr. Dann berührten seine Lippen meine, zuerst kurz und hauchzart, dann immer intensiver.

" Schatz, hier ist jemand am Telefon für dich!", drang plötzlich an mein Ohr. Murrend öffnete ich die Augen und wollte sie eigentlich sofort wieder schließen und bei Jayden sein. " May? Telefon!", rief meine Mutter noch ein wenig lauter. Frustriert suchte ich meine Hausschuhe neben meinem Bett und schlurfte ins Wohnzimmer, wo Melody mit der einen Hand bügelte und in der anderen Hand den Hörer hielt. " Da bist du ja endlich. Phil ist dran", sagte sie und hielt mir den Hörer hin.

Phil war mein ältester Freund. Wir zwei hatten schon im Sandkasten Schlammkuchen gebacken und waren immer noch unzertrennlich. " Hey", begrüßte ich ihn kurz und lief mit dem Telefon wieder zurück in mein Zimmer. " Hi, was machst du gerade?", fragte er zurück. Gähnend antwortete ich:" Bis eben noch schlafen" " Oh, das tut mir leid. Hör zu, ich wollte dich fragen ob wir uns heute treffen können?", kam es aus dem Hörer. " Ja klar, warum nicht? Bei wem denn? Soll ich Jessica noch einladen?", fragte ich. Jessica, Phil und ich waren eigentlich immer zusammen unterwegs. Ob in der Schule, bei Partys, man fand uns nur zu dritt.

" Ne lass mal. Können wir uns um 12:00 bei mir treffen?" " Okay", bejahte ich, wunderte mich aber über seine Bestimmtheit. Hörte ich da ein wenig Nervosität in seiner Stimme?

Später machte ich mich zu Fuß auf zu Phil. Auch er wohnte relativ nah bei mir, ein paar Straßen weiter. Es blies zwar ein unbarmherziger Wind vom Meer her, aber dafür regnete es nicht und hier und da waren sogar ein paar Löcher in der Wolkendecke zu erkennen. Ich genoss den Anblick der knospen reichen Bäume in den Vorgärten der kleinen Häuser, die die Straßenränder säumten. Frühling war schon immer meine absolute Lieblingsjahreszeit gewesen. Nicht nur wegen meinem Geburtstag im Mai oder wegen den Frühlingsferien, die schon vor ein paar Tagen angefangen hatten, sondern wegen dem plötzlichen Einbruch von Farbe und Leben in der Natur. Alles begann zu sprießen und zu explodieren.

" May, da bist du ja!", rief mir Phil von seiner Veranda zu. Erstaunt musste ich feststellen, dass er sein sonst so verstrubbeltes blondes Haar ordentlich gekämmt hatte und ein glatt gebügeltes Hemd trug, anstelle seiner typischen Sweatshirt die mit Sprüchen wie " Als Gott den ersten Tag erschuf war es ausgerechnet ein Montag" bedruckt waren.

" Hey! Gibt es irgendeinen Anlass, dass du dich so schick machst?", rief ich zurück und stellte mich unter die Veranda. " Nein", er schaute zu mir herunter und überlegte, " Eigentlich doch".

" Mach es nicht so spannend!" Er lächelte und kam zu mir runter. " Ich muss dir was sagen May" Ich lachte:" Lass mich raten: Du bist schwanger!" Er schüttelte grinsend den Kopf:" Du Quatschkopf!" Ich verschränkte die Arme, " Was ist es denn jetzt?", stocherte ich. " Nicht hier. Komm mit in den Wald, da sage ich es dir".

" Du machst es wirklich spannend. Was ist denn so wichtig, dass wir dafür extra in den Wald gehen müssen?", fragte ich ihn aus, während ich ihm in den nah angrenzenden Wald folgte. Irgendwann blieb er stehen und drehte sich zu mir um. " Ich wollte es dir schon immer sagen May", fing er an und kam mir einen Schritt näher. " Was?", fragte ich verzweifelt. Er atmete tief durch und schaute mir ernst in die Augen. " Okay, es muss jetzt endlich raus. Schluss mit verheimlichen"

" Ich liebe dich May und zwar schon seit Jahren. Nie haben ich mich getraut es auszusprechen, aus Angst du würdest es nicht erwidern, doch ich muss es dir endlich sagen, May. Ich liebe dich...", sagte Phil, doch ich hörte ihm gar nicht richtig zu. Aus irgendeinem Grund schweiften meine Gedanken zu Jayden, als wäre er ganz nah. Plötzlich erregte etwas hinter Phil meine Aufmerksamkeit: Die Umrisse eines riesigen Wolfes. Mit wachsamen Augen beobachtete er mich aus dem Schatten der Bäume, wobei er mit seinem dunklen Fell fast nicht zu erkennen war. Einen Augenblick kreuzten sich unsere Blicke, dann drehte sich der Wolf um und rannte beinahe lautlos tiefer in den Wald. Mit großen Augen starrte ich ihm hinterher.

White Wolf HalbmondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt