Kapitel 4 oder Wahrheit tut weh

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Die Straße kam so plötzlich, dass ich mitten auf die Fahrbahn stolperte. Aus dem Augenwinkel sah ich wie ein Auto auf mich zu raste. Als ich mich schon auf einen Aufprall gefasst gemacht hatte, bremste das Auto in letzter Sekunde.
Die Fahrertür wurde aufgerissen und eine Person rannte auf mich zu. "May? Bist du verletzt? Ist alles in Ordnung?"

Phil. Erleichtert atmete ich aus und rappelte mich auf. Noch nie war ich so froh gewesen meinen Kindheitsfreund zu sehen. "Phil", rief ich und stürzte auf das Auto zu. Panisch öffnete ich die Beifahrertür und sprang ins innere. "May, was ist denn los?", fragte Phil, der mich verwundert beobachtete.
"Bitte fahr los, sofort!", schrie ich.
Perplex stieg er ein und startete den Motor. "Schnell!", stieß ich aus, woraufhin das Auto einen Ruck nach vorne machte und losfuhr.

Erleichterung machte sich mit einem mal in mir breit und ich sank außer Atem tief in meinen Sitz. Besorgt beobachtete Phil mich von der Seite. "May, was ist mit dir los? Wovor hast du solche Angst?", fragte er mich.
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und überlegte, was ich ihm sagen sollte. Er würde mich zum Narren halten, wenn ich ihm die Wahrheit erzählen würde. Also improvisierte ich: "Also, da war ein Bär im Wald. Ich weiß nicht, was er so nahe an der Stadt gemacht hat, aber ich habe Panik bekommen, dass er mich angreift, also bin ich weggelaufen. Zum Glück warst du da, sonst wäre ich vielleicht als Bärenfutter geendet."

"Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Wir sollten bei der Polizei anrufen, dass ein wilder Bär im Wald rumläuft, dass sie eine Ausgangssperre einberufen!", erwiderte Phil. Kurz stockte ich- vielleicht war die Geschichte mit dem Bären doch keine so gute Idee gewesen. "Ähm, ich mach das später mit der Polizei", versuchte ich ihn abzulenken.

Bevor Phil etwas erwidern konnte, klingelte mein Handy. Mit noch immer zitternden Händen pulte ich es aus der Innentasche meines Kleides. Jessica. "May, wo bist du?", drang es aus dem Hörer. Ich musste sie vor Jayden warnen. Was wenn er meiner Familie etwas antun würde? "Lass Jayden nicht ins Haus Jess, hörst du? Er ist gefährlich!", warnte ich sie.

"Komm runter May. Wo bist du verdammt nochmal?", fragte sie besorgt. "Ich bin bei Phil, mach dir um mich keine Sorgen!", beruhigte ich sie. "Was ist passiert? Wo ist er jetzt?", drang es erneut aus dem Handy. Mit einem Handzeichen bedeutete ich Phil am Straßenrand zu halten und stieg aus. Erst als ich hinter dem Wagen stand begann ich ins Telefon zu flüstern:" Also, er hat mich in den Wald gezogen um mir was zu erzählen. Dann hat er sich plötzlich in eine riesige Bestie verwandelt und angefangen mich zu jagen! Zum Glück hat Phil mich gefunden".

Ich wusste wie lächerlich sich das anhörte, aber ich musste es ihr erzählen. Sie würde mir noch am ehesten glauben. Ich machte mich auf einen Lacher gefasst, aber zu meinem großen Erstaunen blieb sie ernst. "Ich komme dich holen. Wo genau bist du?"

"Auf der Route 45. Danke", erwiderte ich und sie legte auf. Mein Herz rast immer noch, aber die Panik war langsam überwunden. "Bist du dir sicher, dass es dir gutgeht?", fragte Phil, während er aus dem Auto stieg. "Ja, alles okay. Hab nur kurz mit Jess telefoniert, sie holt mich gleich hier ab".

"Hör zu May, ich weiß, ich habe dich gestern überrascht. Ich möchte einfach nicht, dass unsere Freundschaft jetzt vorbei ist. Das würde ich nämlich nicht aushalten. Ich brauche dich", erklärte er und stellte sich neben mich. Entschlossen legte ich ihm einen Finger auf die Lippen. "Pscht. Es ist schon okay. Weißt du was: Ich bin froh, dass du es bist, der jetzt gerade bei mir ist. Ich war dumm gestern", flüsterte ich.

Plötzlich trafen sich unsere Lippen, ohne, dass ich es gewollt oder erwartet hätte. Etwas in mir rief: "Stopp! Das ist falsch!", aber der Rest von mir ignorierte diese Stimme und erwiderte den Kuss. Vielleicht war es falsch und egoistisch, aber ich brauchte genau das jetzt. Liebe, Zuwendung. Ich wollte mich nicht fragen, ob ich ihn auch wirklich liebte, ich wollte nicht an das denken, was ich immer noch für Jayden empfand.
Gerade wollte ich mich einfach nur glücklich und geborgen fühlen.

White Wolf HalbmondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt