Ohne nachzudenken stürzte ich mich in den Wald vor mir. So weit wie möglich vom Kampf verschwinden, das war mein einziger Gedanke. Tief in mir zog es mich zwar zu Jayden, der gerade wahrscheinlich sein Leben für mich riskierte, aber ich wusste, dass niemanden geholfen war, wenn ich im Dorf war und mitkämpfte.
Jayden hatte mir erklärt, dass jeder Wolf einer umfangreichen Kampfausbildung unterzogen wurde, die ihm zu einem gefährlichen Kämpfer machte. So gesehen war ich wirklich keine Hilfe.
Ich wusste nicht wie lange ich rannte, es kam mir wie eine halbe Ewigkeit vor.
Dann plötzlich hörte ich ein rascheln. Abrupt blieb ich stehen und schaute mich nervös um. Wurde ich verfolgt? Doch das Geräusch stammte von mehreren Kindern, die sich in einer Baumhöhle versteckten. Verwundert streckte ich meinen Kopf in die dunkele Höhle hinein."Was macht ihr denn hier?", fragte ich die kleinen. Ein ungefähr sechsjähriger antwortete mir:" Wir sollen uns hier während des Kampfes verstecken!"
Ich nickte, das klang logisch. Gerade wollte ich weiter rennen, da ertönte ein tiefes Knurren hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um. Ein schwarzer Wolf kam aus dem Unterholz und zog drohend die Lefzen nach hinten. Anscheinend war er meiner Spur gefolgt.
Entschlossen verwandelte ich mich und stellte mich schützend vor die Kinder. Alle Angst war plötzlich wie weggeblasen und wurde von einem neuartigen Feuer was durch meine Adern brannte ersetzt. Eigentlich hatte ich ja keine Chance gegen einen ausgebildeten Werwolf, doch ich musste es probieren.Mit einem Satz stürzte sich mein Gegner auf mich und schnappte nach meinem Hals. Im letzten Moment schaffte ich es mich wegzudrücken und die rasiermesserscharfen Zähne verfehlten ihr Ziel. Verzweifelt schnappte ich nach dem Bein des dunklen Wolfes. Mit einem Mal überließ ich das Kämpfen meinem Körper und meinen Instinkten und es war als ob es ein Verlangen tief in mir war.
Ich und mein Gegner wuchsen zu einem Kneul aus Fell und Zähnen zusammen, wild um uns schnappend. Er verpasste mir einen Kratzer über der Nase und ich schaffte es seinen Schwanz mit den Zähnen zu packen und zu zerreißen.
Nach einer Weile gewann ich die Oberhand und schaffte es seinen Hals zwischen den Zähnen zu packen. Ich wollte ihn nicht töten und hinterließ stattdessen aber eine lange Spur mit meinen Zähnen und ließ ihn dann frei.
Er rappelte sich auf und starrte mich mit vor Schreck geweiteten Augen an. Blut tropfte aus der Wund und sickerte durch sein schwarzes Fell. Dann machte er kehrt und verschwand mit einem Satz im Wald.
Ich verwandelte mich zurück und vergewisserte mich, dass es den Kindern gut ging. Erleichtert atmete ich aus, als ich sah, dass es ihnen wohlauf ging. Mir war klar, dass ich meine Spuren von ihnen weglocken musste. Schließlich waren sie ja hinter mir her und nicht hinter ihnen.
Also rannte ich den Weg zurück den ich gekommen war, in der Hoffnung das würde die kleinen vor weiteren Angriffen schützen.
Innerlich wunderte ich mich, dass ich gegen den Werwolf gewonnen hatte mit meiner nicht vorhandenen Kampferfahrung. Es war mir alles so leicht und intuitiv vorgekommen, als hätte ich nie etwas anderes gemacht.Schwer atmend presste ich mich gegen den feuchten Baumstamm hinter mir. Mit aller Macht versuchte ich mich zu beruhigen, doch mein Herz raste dennoch.
Sie würden mich finden, verdammt, sie würden mich finden.Ohne dass ich es bemerkte krallten sich meine Fingernägel in das morsche Holz. Noch nie war ich so angespannt, mein Körper fühlte sich an, als würde er gleich explodieren.
Und da hörte ich sie- dröhnende, donnernde Schritte gefolgt von einem schneidenden Geruch. Das war nicht Jayden der kam um mir zu sagen, dass alles okay war- nein. Das war der selbe Geruch der drohend über dem Dorf gehangen hatte und Verderben mit sich gebracht hatte. Beinahe hätte ich laut geflucht, als ich mich vom Baumstamm abstieß, um tiefer in den Wald zu rennen.
Die Bäume kamen mir seltsam bekannt vor, so wie das Gefühl von einem hämmernden Herzschlag, einem Atem der sich überschlägt.Ein hektischer Blick nach hinten verriet mir, dass die Werwölfe meine Fährte aufgenommen hatten. Die graubraunen Pelze kamen bedrohlich näher, hoben sich schemenhaft vom Waldboden ab, schnappten nach meinen wunden Fersen.
Ich atmete tief ein, sprang dann in die Lüfte und verwandelte mich im Flug. Mit einem mal war der Wald nicht mehr Wald, alles schien zu Leben und mich aufzunehmen. Die feuchte, taunasse Erde unter meinen Pfoten und die Geräusche der unzähligen Waldtiere schienen erst jetzt richtig auf mich einzuprasseln.
Verbissen unterdrückte ich das gewohnte Gefühl der Freiheit und konzentrierte mich aufs rennen.Mit einem mal lichtete sich der Wald vor mir und ich schlitterte auf eine gut bekannte Lichtung. Nein, das konnte nicht sein. Es war exakt so wie in meinem Traum, doch nun wusste ich, dass der Junge der vor mir stand nicht Jayden war, nicht der Junge in den ich mich verliebt hatte. Nein, es musste Jordan sein, Jaydens eineiiger Zwillingsbruder.
Ich hatte keine Zeit zu überlegen, warum ich schon von dieser Szene geträumt hatte, oder wieso ich das nicht vorher bemerkt hatte. Es ging alles so schnell, Jordans kaltes Lächeln, während er sprach, sein schleichender Gang, der sich klar von dem seines Bruders unterschied, das verräterische Glitzern auf dem Dolch in seiner Hand.
Ich konnte nichts tun, es einfach nur geschehen lassen. Die Angst in mir stieg ins Unermessliche und ich hätte am liebsten laut geschrien, doch aus meiner Kehle wollte kein einziger Ton klingen.
Und dann passierte es: Ein schneller Ruck nach vorne und der Dolch verschwand in mir. Ich rang entsetzt nach Luft, als sich das kühle Heft des Dolches tief in mein Herz bohrte. Ich starrte in Jordans Augen, die ein Ebenbild derer seines Bruders waren. " Lebe wohl May", sagte er und überließ mich meinem Schicksal. Das war es jetzt also. Es war vorbei. Einen Augenblick lang fühlte ich nichts, nur die Kälte die vom Dolch ausging. Doch dann explodierte in mir der Schmerz. Mein Körper sackte in sich zusammen und ich kam unsanft am Boden auf. Als ich kraftlos nach oben schaute, sah ich nur, wie Jordans Wolfgestalt und sein Rudel zwischen den Bäumen verschwand.
Langsam kroch alle Energie aus meinem Körper, das Leben verließ mich Stück für Stück. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so sterben würde. So früh. Ich hatte ein unsterbliches Leben vor mir gehabt, an Jaydens Seite.
Ich musste daran denken wie Jessica mir erklärt hatte, dass man mit einem Silberdolch im Herzen auf jeden Fall sterben würde. Und der Dolch steckte tief in mir drinnen.Doch es war in Ordnung jetzt zu sterben. Ich hatte meine große Liebe gefunden. Wenige Menschen hatten je so etwas besonderes erlebt, wie es zwischen mir und Jayden passiert war. Ich hatte schöne Momente erlebt, Freunde und Werte gehabt.
Verzweifelt versuchte ich an ihn zu denken, seine grünen Augen, sein Lächeln. Er war es an den ich denken wollte, wenn ich starb. Meine Augen fielen wie von selbst zu und der Schmerz breitete sich in jede Faser meines Körpers aus.
Plötzlich spürte ich wie mich jemand rüttelte. " May, bitte bleibe bei mir!" Jayden. Ich musste es mir einbilden. Mit letzter Kraft öffnete ich meine Augen, und tatsächlich, er war es. Dieses Grün. Grün wie die Blätter des sommerlichen Waldes, der seine trägen Äste der untergehenden Sonne entgegenstreckt. Verzweifelt starrte er mich an und zog den Dolch aus meiner Brust. " Bitte May, bleib bei mir", flüsterte er und strich mit seinen raues Fingern über meine Wange. " Ich liebe dich doch so sehr", sagte er mit brüchiger Stimme. Ich sammelte all meine Kraft und sah ihn an. " Ich liebe dich auch Jayden", hauchte ich, bevor meine Augen zufielen und mich die Dunkelheit einholte.
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White Wolf Halbmond
WerewolfLiebe, Hass, Verrat, Angst. So unterschiedliche Gefühle, doch so nah beisammen. Mit dem Moment, als Jayden plötzlich in Mays unscheinbares Leben taucht, scheint das Glück nicht mehr von ihrer Seite weichen zu wollen. Endlich jemand der sie versteh...