Kapitel 6 oder der erste Vollmond

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Der Wald kam mir heute bedrohlicher denn je vor. Bei jedem rascheln zuckte ich zusammen, fast als würde ich einen Wolf erwarten. Doch es blieb ruhig.

Keuchend versuchte ich zu Jessica auf zu holen, die mindestens 10 Meter vor mir munter durch den Wald spazierte und vor sich hin flötete. Es war ihre Idee gewesen tiefer in den Wald zu laufen um wirklich sicher zu gehen auf keine Wanderer zu treffen.

Meine Eltern hatten mich beinahe unter Tränen umarmt und verabschiedet. Als sie mit 'meine süße kleine May' anfingen würde es mir aber doch ein wenig zu peinlich. Trotzdem konnte ich das Gefühl nicht verhindern Sie das letzte mal als Mensch gesehen zu haben.

Irgendwann blieb Jessica abrupt stehen. "Hier ist perfekt!", rief sie erfreut aus und drehte sich einmal im Kreis. Wir waren an einem kleinen Bach angekommen. "Wir finden leicht hierher zurück. Dafür müssen wir einfach dem Wasser folgen." Ich nickte und setzte mich auf einen Felsbrocken, um mich auszuruhen.

"Noch gut 20 Minuten bis Vollmond. Bist du schon aufgeregt süße?", fragte sie und lächelte mich an. Augenblick fragte ich mich warum sie so guter Dinge war. Leicht schüttelte ich den Kopf. " Geht so. Ich habe eher Angst davor, dass sich jetzt alles in meinem Leben verändert", gab ich zu.

Jessica strich mir übers Haar. "Ach May... Es wird sich alles verändern, das kann ich dir sogar garantieren. Aber wieso empfinden Menschen Veränderung immer als etwas negatives? Vielleicht verändert sich dein Leben ja zum besseren!"

Ich runzelte sie Stirn, darüber hatte ich noch nicht nachgedacht.

"Als ich das erste Mal zum Wolf wurde hat sich vieles in mir verändert. Davor war ich unausgeglichen und launig, aber die Verwandlung hat irgendwie einen Schalter in mir umgelegt", fügte sie hinzu.

Ich musste schmunzeln. Launig war sie aber immer noch.
"Ich bin froh dass du das mit mir machst Jessica. Danke, dass du für mich da bist, alleine würde ich das nicht schaffen", gab ich zu. Und irgendwie musste ich daran denken, dass Jessica nur wegen mir in White Rock war. Wäre sie nicht eigentlich lieber beim Rudel? All die Jahre war sie ohne Zögern für mich da gewesen, fern von ihrem eigentlichen Leben. Sie hatte sich verstecken müssen, ihr wahres ich verbergen müssen. Und ich hatte es nicht einmal bemerkt.

Plötzlich befielen mich Gewissensbisse. Ich hatte noch nie aus ihrer Perspektive auf die Sachen geschaut.
"Warum bist du nicht mit Jayden mitgegangen? Wieso bist du immer noch hier bei mir? Was hat dich dazu gebracht all die Jahre hier zu bleiben?", fragte ich sie.

Nach einer Weile antwortete sie:" Weißt du, ich liebe mein Rudel, wirklich. Aber ich habe mich immer alleine gefühlt. Meine Eltern sind früh verstorben und meine einzigen Freunde waren mein Bruder, Jayden und Jordan. Doch nach Jordans Verrat als Jayden Alpha wurde und Ash zu seinem Beta machte blieb ich irgendwie außen vor.
Plötzlich hatten die beiden viel mehr zu tun und einfach keine Zeit mehr für mich. Es gab zwar noch viele andere Wölfe im Rudel, aber die meisten sind viel älter als ich und gehören zum Indianerteil unseres Rudels. Irgendwie habe ich mich nie wirklich willkommen bei ihnen gefühlt.
Und als Jayden mich dann eines Tages gefragt hat ob ich nicht Lust hätte mal auf eine richtige Schule zu gehen und meine Tante in White Rock zu besuchen, um ein Auge auf dich zu werfen, habe ich sofort zugesagt. Ich wollte schon immer auf eine echte Schule gehen und eine beste Freundin haben."

Plötzlich hatte ich das Verlangen sie zu umarmen, was ich auch tat. "Oh Gott gleich ist es so weit!", schrie jedoch plötzlich Jessica auf. Stimmt da war ja was: Vollmond. Vor lauter Jessica hatte ich ihn fast vergessen. Irgendwie war ich jetzt doch ein kleines bisschen aufgeregt. "Noch 2 Minuten! Schnell zieh deine Schuhe und deinen Schmuck aus. Sonst gehen die Sachen bei der Verwandlung noch kaputt!", wies sie mich an und machte sich selbst als aufschnüren ihrer Schuhe.

White Wolf HalbmondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt