XII

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Am nächsten Morgen wurde das Gespräch weder von mir, noch von meinen Eltern erwähnt und ich bemühte mich angestrengt, mich auf andere Gedanken zu bringen. Den ganzen Tag über hatte ich im Garten gearbeitet, die Fenster geputzt, Mittagessen gekocht und einen Kuchen gebacken und liege nun in meinem Bett und versuche einzuschlafen. Mum und Dad sind ins Theater gegangen und werden erst morgen Mittag wieder zurück kehren, da sie noch "Londons Nachtleben kennen lernen wollen" und in Hotel übernachten. Wenn sie überhaupt zum schlafen kommen. Nun, da ich nichts mehr zu tun habe und meinem Kopf wieder freien Lauf gebe, kehren meine Gedanken unwillkürlich zu dem belauschten Gespräch gestern Abend zurück. Ich stelle mir Horrorszenarien vor, wie ich in den Winterferien nach Hause komme und das ganze Haus leer ist, bis auf einen Zettel der an der Tür klebt, dass meine Eltern ohne mich nach Thailand geflohen sind. Oder dass das ganze Haus zerstört ist und das Blut meiner Eltern von der Decke tropft und sie mit Blut an die Wand geschrieben haben, dass es ihnen leid tut und dass sie mich lieben und dass- Stopp! Lächelnd über meine eigenen Gedankengänge schüttele ich amüsiert den Kopf. Deine Fantasie geht mal wieder mit dir durch, Rosie! Seufzend sehe ich auf die Uhr. 23:46. Jetzt ist schlafen angesagt. Ich kneife die Augen zusammen und stelle mir einen Haufen Schafe vor, die in geordneten Zweierreihen über einen Zaun springen. Doch plötzlich fangen die Schafe an „Dumbledore kann nicht für Sicherheit garantieren" und „Deine Eltern tauchen ohne dich unter" zu blöken. Ich schüttele heftig den Kopf und versuche, sie wieder in die braven, stummen Schafe zu verwandeln, doch es gelingt mir nicht ganz. Stattdessen drängelt sich ein besonders mutiges Schaf nach vorne und ruft mit erstaunlich menschlicher Stimme:„Deine Eltern sind gar nicht im Theater, sie sind auf dem Weg nach Australien oder Amerika oder Deutschland oder China oder-" Bevor es noch mehr Länder aufzählen könnte, wo meine Eltern gedenken unterzutauchen, reiße ich die Augen auf. Was für ein unverschämtes Schaf!
Ich stehe auf und tapse barfuß in die Küche um mir einen Tee zu machen. Es heißt doch immer, das würde am besten gegen Nervosität helfen.

Mit der heißen Tasse in der Hand stehe ich am Fenster und sehe auf die dunkle Straße, die ein wenig von den flimmernden Straßenlaternen beleuchtet wird. Ich denke angestrengt daran, nicht an das Gespräch meiner Eltern zu denken, was natürlich nicht der beste Weg ist, mein Ziel zu erreichen.
Plötzlich bewegt sich ein Busch und ein Kaninchen schlüpft heraus. Vor Schreck mache ich einen kleinen Satz nach hinten und verbrenne mir die Zunge am Tee, bei dem ich gerade zum Schluck angesetzt hatte.
„Verdammt!", fluche ich und stelle die Tasse auf den Tisch um den Tee, der bei meinem kleinen Satz übergeschwappt ist aufzuwischen. Das hat meine ohnehin schon angespannten Nerven zu sehr strapaziert.
Als ich fertig bin, sehe ich wieder auf die Uhr. 00:17. Da Schlafen sowieso aussichtslos ist, entscheide ich in der Küche stehen zu bleiben und zwei, drei oder fünf Tassen Tee zu trinken. Bis meine Blase voll ist. Ich nehme meinen etwas abgekühlten Tee und wollte gerade wieder einen Schluck nehmen, als plötzlich unsere Türklingel klingelt.
Erschrocken stoße ich einen kurzen, spitzen Schrei aus und lasse die Tasse auf den Boden fallen. Sie zerschellt mit einem lauten Geräusch und mein Schrei hallt in meinen Ohren nach. Zitterig atme ich ein und sehe auf die Scherben und die Pfütze aus Tee zu meinen Füßen.
Meine Eltern können nicht vor der Tür stehen, ebensowenig wie einer der Nachbarn, die alle schlafen , oder Liza. Die ist nämlich glücklich mit ihren Eltern in Frankreich am Meer.
Da bleibt nur noch... Mir läuft ein Schauer über den Rücken, bei der Vorstellung, Todesser könnten vor unsere Tür stehen. Doch sofort verwerfe ich diesen absurden Gedanken. Voldemort hätte keinen Grund sie bei uns anklopfen zu lassen und außerdem würden sie dann wahrscheinlich nicht klingeln sondern die Tür eintreten. Obwohl, vielleicht ist das eine Falle, damit ich mich nicht verstecken oder weglaufen kann.
Ich werde von einem zweiten Klingen aus meinen Gedanken gerissen und es klopft leise.
„Ich weiß, dass du da bist, Rose! Mach auf, es ist scheiß kalt hier draußen", höre ich eine männliche Stimme gedämpft durch die Tür rufen und zucke noch mal zusammen. Diese Stimme kommt mir verdächtig bekannt vor, ich kann sie nur nicht zuordnen. Mit einem Küchenmesser bewaffnet, weil mein Zauberstab oben im Zimmer ist, schleiche ich mich zur Haustür und bedaure, dass wir keinen Türspion haben.
Schließlich reiße ich mich zusammen, hebe das Messer und mache langsam die Tür auf.
„Na endlich", sagt die Person und ich öffne die Tür weiter.
„Sirius?", frage ich verwirrt. Er steht mit einem riesigen Koffer und einem schiefen Grinsen im Gesicht vor meiner Tür.
„Was wolltest du mit dem Messer?"
„Hättest ja ein Todesser sein können", nuschele ich mit rotem Gesicht.
„Gegen den du mit einem Messer bestimmt unfassbar viel ausrichten könntest", sagt Sirius ironisch,„darf ich rein kommen?"
„Klar." Eilig mache ihm den Weg frei und gehe ihm vor ins Wohnzimmer.
„Setz dich." Er setzt sich aufs Sofa und wir schweigen uns an.
„Ich glaube, du bist die einzige Person auf der Welt, die nicht sofort fragt, warum zum Teufel ich um halb eins in der Nacht mit einem Koffer bei dir aufkreuze", sagt er schließlich und ich muss kurz lächeln.
„Warum zum Teufel kreuzt du um halb eins mitten in der Nacht bei mir auf? Und woher weißt du meine Adresse?", frage ich ihn,„warum hast du eine Koffer dabei und hast keinen Verkleinerungs-Zauber angewandt? Bist du von deinen Eltern abgehauen, und wenn ja, warum bist du dann nicht bei Potter?" Er lacht leise.
„Wow, so viele Fragen auf einmal. Du bist ja fast schon selbstbewusst." Wieder spüre ich wie mir das Blut in den Kopf schießt.
„Tut mir leid, ich-"
„Hey! Alles ist gut, du musst dich nicht entschuldigen. Hör auf, die ständig schuldig oder verantwortlich zu fühlen", unterbricht er mich lächelnd und ich nicke.
„Also", beginnt Sirius zu erzählen,„ich bin hier, weil ich so ziemlich obdachlos für die nächsten zwei Wochen bin. Deine Adresse weiß ich von deiner Akte, wo ich mal rein geschaut hab, als ich alle Schülerakten von Ravenclaw bei einer Strafarbeit sortieren musste. Den Koffer hab ich nicht verkleinerte, weil ich keine Lust auf eine Anzeige des Ministeriums habe, wegen unerlaubter Zauberei und weil ich es vergessen habe. Und ja, ich bin tatsächlich abgehauen und bei James bin ich nicht, weil er und seine Eltern kurzfristig nach Albanien gereist sind. Seine Eltern haben da irgendwas mit ihrem Job als Auror zu tun."
„Was haben deine Eltern gesagt?", frage ich schüchtern.
„Noch nichts. Sie haben es wahrscheinlich noch gar nicht mitbekommen, dass ich weg bin. Und wenn sie es mitbekommen, wird meine Mutter mich aus dem Stammbaum brennen und mich vollständig enterben. Und mein Vater wird all unseren Verwandten verbieten, Kontakt zu mir aufzunehmen." Sein Tonfall nimmt einen bitteren Zug an und er starrt unseren Wandschrank, der ihn gegenüber steht, an, wie er einen Slytherin ansehen würde. Hasserfüllt. Verabscheut. Doch ich bezweifle, dass er den Wandschrank so sehr hasst.
„Habt ihr vielleicht ein Zimmer frei, oder auch nur ein Zelt oder so?", fragt er schließlich,„es wär auch echt nur für die Herbstferien, danach such ich mir ne eigene Wohnung für die Ferien, versprochen." Ich muss lächeln, weil er so bettelnd mit diesem Hundeblick schaut, den er echt gut drauf hat.
„Ja, wir haben noch ein Gästezimmer und ich bin sicher, dass meine Eltern nichts dagegen haben." Er atmet erleichtert auf.
„Oh, Merlin sein Dank. Sonst müsste ich nämlich unter ner Brücke leben, weil Remus und Peter in Hogwarts sind. Danke. Wirklich, danke!" Er lächelt mich an und ich lächele zurück. Eine Weile sitzen wir und schweigend gegenüber und sehen uns an. Dann wird mir klar, was ich gerade mache. Ich sitze mit dem Freund meiner besten und einzigen Freundin bei mir zuhause, lasse ihn bei mir wohnen, und wir schauen uns regungslos in die Augen. Das mag zwar nach wenig klingen, aber ich weiß, wie schnell Liza eifersüchtig wird. Und wie schnell sie in Situationen zu viel rein interpretiert. Selbst wenn sie hier von hoffentlich nie erfahren wird, sollte ich es lieber vermeiden, mit ihrem Freund in solche Situationen zu kommen.
„Ich muss...", murmele ich und stehe hektisch auf,„Scherben einsammeln. Und Tee aufwischen." Er schmunzelt, während ich in die Küche husche und mich mit einem Lappen auf den Boden vor die Reste der Tasse hocke.
„Da Gästezimmer ist die Treppe hoch und die dritte Tür rechts", rufe ich ihm zu und er steht auf und zerrt den Koffer die Treppe hoch.

Dreimal Klischee zum Mitnehmen, bitteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt