Ich wusste es wirklich nicht. "Keine Ahnung", murmelte ich und starrte weiter den Boden unter meinen Füßen an. Wie hatte ich mir das damals vorgestellt? Ich konnte mich nicht erinnern. Hatte ich geglaubt, wir würden darüber reden oder es würde sich von selbst klären? Hatte ich im ersten Moment nicht getrauert, weil ich insgeheim schon damit gerechnet hatte, dass die Beziehung bald enden würde? Ich wusste es nicht mehr. Hatte ich Martin zu dem Zeitpunkt, als er mit mir Schluss machte, überhaupt noch geliebt? Ich entdeckte etwas Dunkles in mir.
Ich war nicht verletzt, weil Martin die Beziehung beendet hatte, sondern weil Martin die Beziehung beendet hatte. Ich hatte ihn gar nicht mehr geliebt. Ich war schon lange unzufrieden und unglücklich gewesen. Ich hatte nur darauf gewartet, dass noch etwas passierte, dass er mir einen letzten Grund gab, Schluss zu machen. Doch er war mir zuvorgekommen und hatte die Beziehung beendet. Er hatte mir diesen letzten Triumph genommen und mir ein Gefühl von Unterlegenheit gegeben. Das war es, was mich störte, was mich verletzte.
"Nur weil eine Beziehung schon lange hält, heißt das nicht, dass sie auch für immer halten wird", sagte Stella und gab mit einen Kuss auf die Stirn. "Wenn er es nicht getan hätte, dann hättest du es getan."
Sie war wirklich meine beste Freundin. Es war, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ich nickte. "Ja. Das ist mir gerade klar geworden." Ich wischte mir die letzten Tränen weg.
"Also gut. Das hätten wir besprochen", sagte Stella und streichelte meinen Rücken. Sie lächelte. "Und jetzt erzähl mir mal, warum du geheult hast."
Ich sah sie verwundert an. Was meinte sie? Stella verdrehte die Augen. "Komm schon, Lel! Du bist eine starke, unabhängige Frau. Eine wie du würde doch wegen eines Vollhonks, der sie freiwillig hergibt, niemals so weinen."
Diese Frau erkannte alles in mir, was ich selbst nicht erkennen konnte. Es schien so, als würde sie mich viel besser kennen als ich mich selbst kannte. "Es muss etwas anderes geben, was dich so unglücklich macht", sagte Stella nochmal. So wollte sie mich zum Reden bewegen. Ich war mir nicht ganz sicher, wie ich anfangen sollte. Was würde sie wohl von der Geschichte mit Cassy halten? Stella war ein toleranter und weltoffener Mensch. Ich bezweifelte, dass sie mich deshalb verurteilen würde. Aber verurteilte ich mich vielleicht sogar selbst? Es konnte doch nicht so schwer sein, es ihr zu erzählen. Sie war meine beste Freundin. Sie wusste alles über mich. Ich hatte ihr sogar von dem Sex mit Martin erzählt, da gab es doch keinen allzu großen Unterschied zu Cassy.
"Hast du vielleicht einen Neuen?", fragte Stella, weil dies oft ein guter Grund zum Weinen war. "Oder eine Neue?" Ich sah sie überrascht an. Damit hatte ich nicht gerechnet. "Das wäre kein Problem für mich. Wirklich nicht. Ich meine, wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Es steht jedem frei, zu lieben, wen er will." Sie war wirklich der passendste Mensch in meinem Leben. "Ist es deswegen?", fragte sie nochmal. Ich nickte. "Ein neuer Mann?" Ich schüttelte den Kopf. Es lag mir auf der Zunge, doch ich brachte es einfach nicht über die Lippen. "Eine neue Frau?" Stellas Stimme wurde gespannter. Ich zögerte kurz und nickte dann.
Stella sprang auf. "Oh, Lel! Das ist ja großartig!", jubelte sie. Ich war bestürzt. Was war denn los mit ihr? Dass es sie nicht störte, war mir klar gewesen, doch dass sie so begeistert davon war, schien mir doch ein wenig übertrieben. "Mein Leben lang wollte ich einen schwulen besten Freund haben, aber alle Schwulen schienen bereits eine beste Freundin zu haben. Und jetzt habe ich statt einem schwulen besten Freund eine lesbische beste Freundin. Das ist toll!", fuhr sie fort. Ich begann zu erklären: "Ähm, ich bin keine Lesbe." Stella zog die Augenbrauen hoch. "Oh, verstehe. Du willst dir alle Optionen offen halten. Anders hätte ich es von einer toughen Person wie dir auch gar nicht erwartet." Ich seufzte kurz. Dann versuchte ich es noch einmal. "Ich glaube, du verstehst es nicht. Ich wollte eigentlich sagen, da-"
"Es wird super!", unterbrach Stella mich. "Ich werde mit dir Unterwäsche im Partnerlook kaufen, für Homosexuellenrechte demonstrieren gehen, dir dabei helfen, ein afrikanisches oder asiatisches Kind zu adoptieren und-"
"Stella! Jetzt hör mir doch mal zu!", fiel ich ihr ins Wort. "Ich versuche doch, es dir zu erklären. Ich bin nicht bisexuell."
Sie setzte sich wieder. Für einige Sekunden herrschte Schweigen. Stella starrte nachdenklich ins Leere. "Also...", begann sie dann zögernd. "Du... Du hast was mit einer Frau am Laufen. Und du bist weder homo- noch bisexuell." Sie sah mich verwirrt an. "Was bist du denn dann?" Ich verdrehte die Augen. "Ich bin einfach nur verdammt verwirrt."
Stella schnaubte. "Aber du musst doch in irgendeiner sexuellen Weise Interesse an ihr haben. Sonst würdet ihr doch nicht-" "Bitte sprich es nicht aus!", ermahnte ich sie. Daraufhin kniff sie die Augen zusammen. "Es ist dir unangenehm, darüber zu sprechen", stellte sie fest und hatte damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich fühlte, wie ich langsam errötete. "Ja..." Meine Freundin schüttelte den Kopf. "Ach herrje... Süße, warum bist du nur so verkrampft? Du hast doch deinen Spaß. Warum kommst du damit nicht klar?" Ich schüttelte den Kopf. "Um ehrlich zu sein, habe ich gerade überhaupt keinen Spaß mit ihr", gestand ich. Stella klopfte auf meine Oberschenkel. "Na los!", sagte sie. "Erzähl's mir!"
Ich sah sie unwissend an. "Was?" Sie lächelte. "Die ganze Geschichte. Von Anfang an. Jedes kleine Detail." "Das könnte eine Weile dauern", seufzte ich. Stella erhob sich und tapste davon. "Wohin gehst du?", rief ich ihr nach. "In die Küche, eine Flasche Wein holen", trällerte sie. "It's Storytime!" Ich schüttelte nur den Kopf. Die gute alte Stella.
Eine Minute später war sie wieder bei mir. Wir schenkten uns Wein ein und ich begann zu erzählen. Anfangs war es noch schwierig für mich, aber bald wurde mein Redefluss sicherer und ich erzählte und erzählte. Es tat mir so gut, mir alles von der Seele zu reden. Ich erzählte von dem Abend in der Sky Bar, von unserem ersten Date, von unseren Partynächten, unserem ersten gemeinsamen Mal, unseren tiefgründigen Gesprächen, von Cassys religiösen Eltern, ihrem Bruder und seiner wundervollen Familie, von der Woche mit "ihrem besten Freund" in Malibu, von unserem Streit, unseren Sorgen, unseren Ängsten, unseren kontaktlosen Phasen, den Problemen, den gemeinsamen Nächten und dem endgültigen Crash.
Als ich fertig war musste mindestens eine Stunde geredet haben. Die Worte waren wie selbstverständlich aus mir herausgesprudelt und ich war so erleichtert. Stella hatte mir die ganze Zeit über aufmerksam schweigend zugehört und mich kein einziges Mal unterbrochen. Als ich fertig war, sah ich sie an und wartete darauf, dass sie etwas sagte.
Stella räusperte sich. "Das ist eine ziemlich verzwickte Situation. Ich glaube, das, was euch fehlt, könnt ihr nur nicht sehen." Ich kniff die Augen zusammen. "Okay, Gandalf, und jetzt bitte so, dass ich es verstehe."
Sie seufzte. "Also gut. Hör zu. Ist es nicht ganz offensichtlich, warum diese Situation so kompliziert ist? Wenn ihr beide die gleichen Gefühle hättet, dann hättet ihr euch schon längst geeinigt." Für einen kurzen Moment musste ich überlegen. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. "Wir haben unterschiedliche Gefühle füreinander. Das bedeutet, eine ist verliebt und die andere nicht." Stella nickte.
"Und welche ist die Verliebte?", fragte ich verwirrt.
"Das musst du herausfinden. Vielleicht ist sie es. Vielleicht bist es aber auch du und kannst es im Moment noch nicht erkennen. Oft merkt man das erst nach einiger Zeit. Liebe ist viel mehr das Produkt als die Voraussetzung einer Beziehung", entgegnete Stella. Sie sprach so weise.Ich starrte ins Leere. Na toll. Ich war vielleicht in eine Frau verliebt. "Ich könnte mir nie vorstellen, das ich mich in eine Frau verliebe. Das ist doch total unnatürlich", sagte ich.
Stella nahm meine Hand. Sie sah mich mit einem warmen Lächeln an. "Nichts auf der Welt ist natürlicher als die Liebe zweier Menschen."
DU LIEST GERADE
Cassy
Romance"Nichts auf der Welt ist natürlicher als die Liebe zweier Menschen." Dies ist die tragische, komische, verwirrende und doch wundervolle Geschichte darüber, wie ich Cassy kennen und lieben gelernt habe. Obwohl ich niemals gedacht hätte, dass so etwa...