Nach meiner Standpauke Schrägstrich Moralpredigt war Cassy eine Zeit lang ganz leise. Sie wusste wohl nicht, was sie darauf sagen sollte. Wir griffen das Thema nicht mehr auf. Sie übernachtete bei mir und wir schliefen in einer innigen Umarmung ein. Augenscheinlich war die Sache vom Tisch. Ich hatte es ausgesprochen, sie hatte es zur Kenntnis genommen. Ende.
Am nächsten Tag hatte Cassy Frühdienst. Sie ließ mich ausschlafen und frühstückte mit Stella, welche gerade erst von einer Party in Downtown nach Hause gekommen war. Vor Kenia hatte sie dort kurze Zeit in einem Club gekellnert und nun hatte sie natürlich die alten Kollegen wiedersehen wollen. So bekam ich es von den Mädels später erzählt.
Bevor Cassy die Wohnung verließ, gab sie mir einen Kuss auf die Stirn. Ich brabbelte im Halbschlaf irgendetwas vor mich hin. Als Cassy gegangen war, legte sich Stella zu mir ins Bett. Ihre Kleidung roch nach Alkohol und Zigarettenrauch. Ich fühlte mich wie ihre große Schwester, die ihr wortgewaltig und unterstützt von einem Hangover ins Gewissen reden musste.
"Du Schnapsdrossel", murmelte ich. Toll. War ich wirklich so müde, dass ich nicht mehr herausbrachte? "Halt die Klappe", entgegnete Stella. Okay, ich hatte es versucht. Die Stimme der Vernunft hatte also versagt.
"Du stinkst", sagte ich. "Geh raus aus meinem Bett." Stella hatte die Augen zu. Sie lag wie ein nasser Kartoffelsack da. "Du bist doof. Ich liege gerade so gut." Ich verdrehte die Augen. "Wie lang warst du denn aus?" Sie kicherte. "Bin gerade rechtzeitig zum Frühstück nach Hause gekommen." Ich seufzte.
"Geh duschen. Du stinkst", sagte ich und drückte mit meinen Füßen gegen ihren Rücken, bis sie aus dem Bett fiel. Stella schrie kurz auf. "Du Brutalo!" Ich wedelte mit den Händen, um ihre Ausdunstung zu vertreiben. "Geh duschen!", wiederholte ich. "Und dann schlaf deinen Rausch aus!"
Stella erhob sich wie der nasse Kartoffelsack, der sie war. Ich kicherte. Meine Güte, jetzt musste ich aber wirklich das Fenster öffnen. Sie hatte es letzte Nacht anscheinend ordentlich krachen lassen. Es fiel mir schwer, mich aus dem Bett zu erheben. Wir waren doch gar nicht so spät schlafen gegangen. Warum war ich nur so müde?
Ich öffnete das Fenster und eine kühle Brise erfasste meinen Körper. Ich zitterte kurz. Draußen hatte es anscheinend abgekühlt. Es regnete ein wenig. Ich kippte das Fenster, um zu verhindern, dass der Regen hereingeweht würde.
Dann wickelte ich mich in eine Decke und ging in die Küche. Ich hörte das Geräusch von fließendem Wasser aus dem Badezimmer. Stella hatte also meinen Rat angenommen und war unter die Dusche gehüpft. Braves Mädchen. Ich machte mir einen Tee und überlegte, ob ich etwas essen wollte. Ich entschied mich dagegen. Es war so ruhig in der Küche. Zu ruhig für meinen Geschmack. Seit Cassys Eintritt in mein Leben und Stellas Rückkehr aus Kenia war ich Ruhe einfach nicht mehr gewohnt. Es gab immer irgendwelchen Trubel. Irgendwelche Unternehmungen, Ausflüge, Überraschungen und auch Streits und Probleme. Insgeheim vermisste ich die Ruhe, die ich früher hatte. Ich glaube, ich bin einfach kein Mensch für viel Aufregung.
Deshalb schien es mir als gute Idee, mal wieder etwas Gemütliches mit Cassy zu machen. Nur zu Hause chillen. Pizza bestellen, fernsehen, einfach mal schön faul sein. Genau das war mein Plan für diesen Tag. Einfach mal wieder schön nichts Besonderes tun.
Ich traf dementsprechende Vorkehrungen. Ich erledigte mein Tagespensum an Home Work und räumte mein Zimmer auf. Ich überzog mein Bett mit frischer Bettwäsche, weil ich den Geruch von Weichspüler dem von Stellas durchzechten Nächten vorzog.
Cassy würde nach der Arbeit herkommen. Sie müsste so gegen fünf da sein. Ich wollte noch etwas Produktives tun. Den Geschirrspüler ausräumen und Staubsaugen, oder etwas in die Richtung.
Stella hielt sich in ihrem Zimmer auf und spielte Tomodachi Life auf ihrem New Nintendo 3DS. Sie war voll in ihrem Element...
Um zwei Uhr klingelte jemand. Ich öffnete die Tür und Cassy stand vor mir. Weinend. Stark weinend. Ihr Gesicht war hochrot, ihre Augen ebenfalls gerötet und komplett verquollen. Sie konnte sich gar nicht mehr einkriegen.
"Cassy...", murmelte ich. "Mein Gott... Was ist denn passiert?"
Sie schluchzte. "I- Ich..." Sie brach erneut in Tränen aus. Ich nahm ihre Hand. "Komm doch erst mal rein."
Cassy betrat meine Wohnung und wir gingen ins Wohnzimmer, wo wir uns auf dem Sofa niederließen. Sie war wie paralysiert. Ich strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. "Hey, Schatz, jetzt beruhige dich doch." Ich versuchte, ruhig zu klingen. Innerlich war ich jedoch völlig aufgewühlt. Wie hätte es auch anders sein können? Es brach mir das Herz, sie so zu sehen.
Cassy atmete laut und schwer in einem unnatürlichen Rhythmus. Von Tränen und Rotz war ihre Nase ganz verstopft und sie konnte nur beschwerlich Luft holen. Ich streichelte ihr sanft über die Schultern. Wie konnte ich sie nur beruhigen?
Es dauerte einige Minuten bis Cassy sich einigermaßen beruhigt hatte und wieder ansprechbar war.
"Was ist denn passiert?", fragte ich erneut.
Cassy schniefte. "I- Ich... Du.. Etwas ganz Schreckliches ist passiert."
"Erzähl mir alles ganz in Ruhe", sagte ich.
"G- g- gestern... Als du... mich abgeholt hast... Du- duu... Hffff... Du h- hast mich geküsst. Aah auf dem Parkplatz hh hat eine Mu- Mutter gerade ihr Kind... ihr Kind zum Auto gebracht. U- und das Kind hat gesehen, dass wir uns geküsst haben", erzählte sie. Ich ahnte, in welche Richtung diese Geschichte weitergehen würde. Cassy atmete einmal tief durch und schniefte einige Male. "D- Das Kind hat auf uns gezeigt und es der Mutter gesagt... Hhh... Heute hat sie im Kindergarten angerufen und mit der Leitung des Kindergartens - also meinem Chef - gesprochen... S- sie sagte, dass man kleine Kinder nicht mit Homosexualität konfrontieren darf, weil sie das verwirrt, weil es ja so unnatürlich ist. Herrgott nochmal!" Gegen Ende wurde sie immer wütender. "Und der Direktor hat dieser blöden Ziege auch noch recht gegeben. Ich musste heute in sein Büro und er will mich suspendieren... Mir droht die Kündigung." Sie sah mich an. "Ich werde vielleicht meinen Job verlieren, weil du mich geküsst hast." Erneut brach sie in Tränen aus und weinte bitterlich.
"Ich will meinen Job nicht verlieren, Leila!", wimmerte sie. "Ich liebe meine Arbeit."
Ich nahm ihre Hand. "Das weiß ich. Und du bist eine großartige Kindergartentante. Du bist liebevoll und geduldig und einfühlsam. Du bist einfach wunderbar. Und du darfst verdammt nochmal küssen, wen du willst! Egal, was andere sagen. Wenn dir wegen dem die Kündigung droht, dann zerre ich diese Mutter und diesen Direktor eigenhändig an den Ohren vor Gericht!" Nun wurde ich wütend. Was für eine Frechheit! Die Kinder nicht "konfrontieren"? Sollte man ihnen nicht beibringen, dass Menschen sich unterschiedlich verlieben und dass das komplett in Ordnung ist?
Cassy schluchzte leise vor sich hin. Ich drückte ihre Hand fester. "Cassy", begann ich. Sie konnte sich nicht fassen. "Cassy. Hey. Sieh mich an." Cassys rote Augen wanderten zu mir. "Hör mal. Du bist ein toller Mensch und du machst einen tollen Job. Ich liebe dich und ich werde dir helfen. Du wirst deine Arbeit nicht verlieren. Versprochen."
Cassy fiel mir um den Hals. Für den Moment war sie glücklich, aber ich konnte fühlen, dass sie noch immer traurig und vor allem ängstlich war. Und auch ich hatte Angst, weil ich nicht wusste, ob ich mein Versprechen halten konnte.In dieser Situation waren wir viel zu sehr mit unseren Ängsten und Problemen beschäftigt, um zu realisieren, dass ich Cassy gerade mein erstes Liebesgeständnis gemacht hatte.
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Cassy
Romance"Nichts auf der Welt ist natürlicher als die Liebe zweier Menschen." Dies ist die tragische, komische, verwirrende und doch wundervolle Geschichte darüber, wie ich Cassy kennen und lieben gelernt habe. Obwohl ich niemals gedacht hätte, dass so etwa...