Cassy und ich waren nun mehr oder weniger offiziell ein Paar. Wir versprachen uns, nichts mit anderen anzufangen, wobei wir uns eigentlich schon vor der fixen Beziehung immer treu gewesen waren.
Ein paar Tage nach dieser seltsamen Unterredung stellte sich Stella mit mir vor den großen Spiegel neben der Garderobe im Flur und versuchte, mich mental zu stärken. Sie hatte in Kenia angefangen, täglich zu meditieren und wollte nun die Kraft der positiven Affirmationen mit mir teilen.
"Ich bin stark", sagte sie.
"Ich bin stark", plapperte ich ihr nach.
Sie legte mir die Hände auf die Schultern. Wir sahen uns beide im Spiegel an, sprachen zu unserem eigenen Spiegelbild wie zu uns selbst.
"Ich bin ausdauernd", sagte Stella.
"Ich bin ausdauernd", sagte ich.
"Ich bin klug", sagte Stella.
"Ich bin klug", sagte ich.
"Ich bin schön" sagte Stella.
"Ich bin schön", sagte ich etwas verunsichert.
"Ich bin nicht besser als jemand anders", sagte Stella.
"Ich bin nicht besser als jemand anders." Dieser Satz verwirrte mich etwas.
"Niemand ist besser als ich", sagte Stella.
"Niemand ist besser als ich." Beide Teile zusammen ergaben eine wirklich schöne Phrase.
"Ich vertraue auf mich selbst", sagte Stella.
"Ich vertraue auf mich selbst", wiederholte ich.
"Ich liebe mich", sagte Stella.
"Ich liebe mich", sagte ich unsicher.
"Ich nehme alles Positive an", sagte Stella.
"Ich nehme alles Positive an", sagte ich.
"Ich lasse mich von dem Negativen nicht einschüchtern", sagte Stella.
"Ich lasse mich von dem Negativen nicht einschüchtern", wiederholte ich.
"Ich bin toll!", jubelte Stella.
"Ich bin toll!", versuchte ich überzeugt zu sagen.Stella umarmte mich. "Und? Wie fühlst du dich?" Ich legte den Kopf schief. "Ich weiß es nicht so genau... Ist das denn wirklich notwendig? Ich führe jetzt eine gleichgeschlechtliche Beziehung, aber muss ich mich deshalb selbst bestärken? Ich meine, du tust so als wäre ich bereits wegen meiner Bisexualität von der Gesellschaft ausgeschlossen und von meiner Familie verstoßen worden."
Sie kaute auf ihrer Unterlippe. "Es ist bestimmt gut für dich. Jeder Mensch braucht Motivation. Cassy und du seid erst seit ein paar Tagen ein Paar. Wer weiß, was noch auf euch zukommt. Nicht alle Menschen sind gebildet genug, um tolerant zu sein." Sie verunsicherte mich damit etwas. Plötzlich schmunzelte sie. "Ich habe früher immer geglaubt, dass man tolerant mit zwei L schreibt, weil das Wort eine Ableitung von toll ist." Sie kicherte.
Ich seufzte lächelnd. "Ja klar. Weil tolerante Menschen einfach alles und jeden immer toll finden. Ladies and Gentlemen, willkommen in Stellas kleiner Welt!"
Sie kicherte. "Tol-l-l-l-l-erant!"
"Du bist auch toll", entgegnete ich."Ich geh dann mal spielen. Mach's gut", sagte Stella. Sie hatte sich vor zwei Tagen einen New Nintendo 3DS gekauft und war ganz verrückt nach dem Spiel "Zelda - A Link Between Worlds".
"Und was ist mit deinem Vorstellungsgespräch?", fragte ich. "Das ist morgen", entgegnete sie. Stella hatte bereits zwei Rückmeldungen zu ihren Bewerbungen erhalten. Ein Vorstellungsgespräch in einer Anwaltskanzlei war bis jetzt fix. Sekretärinnen wurden gerade stark gesucht. Stella verschwand mit ihrem Nintendo in ihrem Zimmer.Ich ging in die Küche und machte mir einen Tee. Ich schaute auf mein Handy. Cassy hatte mir geschrieben, dass sie heute bis drei arbeitete und sich deshalb so gegen halb vier mit mir treffen wollte. Ich spielte mit dem Gedanken, sie direkt von der Arbeit abzuholen. Der Kindergarten, in dem sie arbeitete, war nur ein paar Straßen weiter. Es war auch schön warm draußen, deshalb entschied ich mich dazu, mit dem Fahrrad hin zu fahren.
Um viertel vor drei machte ich mich auf den Weg. Ich blieb mit meinem Fahrrad vor dem Eingang des Kindergartens stehen und wartete. Als Kindergartenpädagogin ging Cassy natürlich als Letzte, da sie ja warten musste, bis alle Kinder abgeholt waren. Ich beobachtete das Schauspiel auf dem Parkplatz. Ein Auto nach dem anderen parkte. Männer und Frauen - vor allem aber Frauen - stiegen aus und betraten das Gebäude. Nach einigen Minuten kamen sie mit einem Kleinkind an der Hand wieder heraus, gingen gemeinsam zum Auto, hievten ihr Kind in den Kindersitz und fuhren davon.
Ungefähr sieben Minuten nach drei kam Cassy aus dem Gebäude. Ich fuhr ihr entgegen und hielt knapp vor ihr mit quietschenden Reifen an. Sie erschrak kurz, doch dann erkannte sie mich. "Zuckerstück", sagte sie erstaunt. "Was machst du denn hier?" Ich grinste. "Ich schätze mal, ich konnte es einfach nicht erwarten, dich zu sehen." Ich spürte, wie ich dabei rot im Gesicht wurde. Cassy lief auch ganz rot an. "Kaum sind wir mal vier Tage lang in einer Beziehung, schon lässt du den Romantiker raushängen." Ich kicherte. "Halt die Klappe und küss mich erst mal." Cassy gab mir einen Kuss. Ihr Lipgloss schmeckte nach Himbeeren. Aber nicht nach den Himbeeren aus dem Garten oder den Himbeeren, die im Winter aus Südafrika importiert werden. Auch nicht nach den Himbeeren in der Himbeerlimonade. Der Lipgloss schmeckte einfach nach der stark duftenden, chemisch angerührten, glitzernden Himbeerpampe.
"Uwäääh", machte ich. "Schatz, könnten wir uns bitte darauf einigen, dass du keinen Lipgloss trägst, wenn wir uns treffen? Das schmeckt richtig ekelhaft." Cassy schüttelte lachend den Kopf. "Oh, Zuckerstück. Du sollst mich küssen und nicht auffressen." Ich sah sie mit großen Augen und Schmollmund an. "Aber... Aber ich hab dich doch zum Fressen gern!" Sie verdrehte die Augen. "Jetzt wird's mir aber ein bisschen zu kitschig."
Wir machten uns auf den Weg zu einem Café. Cassy ging und ich fuhr ganz langsam auf meinem Fahrrad nebenher. Wir überquerten eine Straße auf einem Schutzweg und plötzlich hörte ich ein mechanisches Klicken und stürzte mitsamt dem Rad auf den Gehweg. "Leila! Ist dir was passiert?" Cassy war völlig außer sich. Ich stand auf. Mir war nichts passiert. "Nope. Nicht mal ein Kratzer. Aber ich glaube, mein Fahrrad ist im Arsch." Ich kniete mich zum quer liegenden Fahrrad hinunter und betrachtete es. "Nein, das sollte noch zu retten sein. Durch den Sturz ist die Klingel abgebrochen, aber es ist nur die Kette rausgesprungen. Määh, ich kann die nicht wieder einhängen."
"Entschuldigung", hörte ich eine Männerstimme über mir. Ich blickte hinauf. Neben uns standen zwei Männer. Ich schätze sie auf ungefähr achtundzwanzig Jahre. Der eine war muskulös gebaut und hatte viele Tattoos auf den Armen. Er hatte schokoladenfarbenes Haar und grüne Augen. Seine Wangenknochen standen etwas hervor - nicht auf die eklige Weise, sondern einfach markant. Sein Begleiter war ein kleines Stück größer als er, weniger muskulös und hatte kurzes dunkelblondes Haar und rehbraune Augen. Sein Gesicht hatte weichere Züge als das des anderen. "Könntet ihr uns eine nette Bar oder ein Café in der Nähe empfehlen? Wir sind nicht von hier."
"Ähm, ja. Die Straße runter" - Ich zeigte in die entsprechende Richtung - "ist auf der linken Seite ein nettes Irish Pub." Die Blicke der beiden folgten meinem Finger. "Okay, danke." Sie wollten sich gerade auf den Weg machen, als sie dann doch abrupt innehielten. "Ähm.. Kann ich dir vielleicht helfen?", fragte der mit den markanten Wangenknochen. Ich seufzte. "Wenn du dich mit Fahrrädern auskennst, dann gerne." Er grinste. "Zufällig weiß ich ziemlich viel über Fahrräder." Dann kniete er sich nieder und begutachtete meinen Schrotthaufen. "Ich bin übrigens Sam", stellte sich der mit dem dunkelblonden Haar bei Cassy vor. "Und das ist mein Kumpan Dean." Cassy schüttelte ihm die Hand. Was für eine seichte Anmache! "Ich bin Cassy und das ist... Warte mal! Scheiße noch eins! Ihr heißt wie die Winchesters! Wie geil ist das denn?" Okay... "Wer sind die Winchesters?", fragte ich stutzig. Cassy verdrehte die Augen. Sie zeigte auf mich. "Diese junge Frau, die anscheinend noch nie Supernatural gesehen hat, ist übrigens meine Freundin Leila." "Ich hab mal davon gehört", protestierte ich. "Du hast dir die Serie aber nie angesehen", entgegnete Cassy. "Bildungslücke. Schäme dich, mein Kind." Nun verdrehte ich die Augen.
"Ich kann deiner Begeisterung einen Dämpfer verpassen. Wir sind keine Brüder", sagte Sam. Cassy sah am Boden zerstört aus. "Scheiße, nein. Das wäre so perfekt gewesen!" Sam schüttelte bedauernd den Kopf. "Leider." Nun meldete sich Dean zu Wort: "Fertig. Jetzt sollte es wieder laufen. Oder eben... radeln... Ha... Ha... Der war schlecht." Ich verzog meinen Mund zu einem schiefen Lächeln. "Dankeschön." Ich hob das Rad auf. "Dann wünsch ich euch noch einen schönen Tag."
"Hey, warum kommt ihr nicht einfach mit?", fragte Dean. "Ähm, nein, ich glaube eher nicht. Wir wollten noch...", entgegnete ich, aber Cassy fiel mir ins Wort: "Klar. Warum denn nicht? Wir wollten doch sowieso in ein Café. Da können wir genauso gut in ein Pub gehen." Ich unterdrückte ein Seufzen. Es war nicht meine Art, mit Fremden mitzugehen. Aber von nun an musste ich mich daran gewöhnen, dass mit Cassy alles ein bisschen... naja... anders war.
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Cassy
Romance"Nichts auf der Welt ist natürlicher als die Liebe zweier Menschen." Dies ist die tragische, komische, verwirrende und doch wundervolle Geschichte darüber, wie ich Cassy kennen und lieben gelernt habe. Obwohl ich niemals gedacht hätte, dass so etwa...