33. Kapitel

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"Würdest du das bitte wiederholen?", fragte ich fassungslos. Ich konnte einfach nicht glauben, was sie gesagt hatte, obwohl sie natürlich die Wahrheit sprach. Mit zittrigen, schweißnassen Fingern fuhr ich mir durchs Haar. Ich lief im Raum auf und ab, wobei meine Schenkel zitterten. Cassy saß auf dem Sofa vor mir, die Hände auf die Knie gelegt, den Blick zu Boden gerichtet. Sie atmete laut. Es war schmerzhaft für sie, darüber zu sprechen.

"Er... Er sagte, wir könnten uns in dieser Angelegenheit ganz friedlich einigen. I- Ich... Ich müsste ihm nur etwas entgegenkommen. Und... und dann hat er... Oh, bitte, zwing mich nicht dazu, es auszusprechen, Leila!" Sie schlug die Hände vors Gesicht und ich ließ mich neben ihr auf dem Sofa nieder. Ich umfasste ihre Handgelenke und zog ihre Hände von ihrem Gesicht weg. "Hey... Hey", sagte ich. "Cassy... Komm, Cassy, sieh mich an!" Langsam bewegten sich ihre grünen Augen in meine Richtung. Sie waren gerötet, aber sie hatte nicht geweint. Cassy war nicht traurig, sie war wütend. Und sie hatte guten Grund dazu!

"Er hat versucht, dir das Oberteil auszuziehen", sagte ich. "Es ist passiert. Daran kannst du nichts ändern. Wir können ihn nur anzeigen." Ich erinnerte mich, dass ich gesagt hatte, wir würden uns vor Gericht sehen. Und dann hatte ich Cassys Chef ein Arschloch genannt. Ups!

Cassy schüttelte den Kopf. "Nein, das tun wir nicht", meinte sie. Verwundert sah ich sie an. Was ging in ihrem Kopf vor und warum hatte sie zuvor, als wir den Kindergarten verlassen hatten, gekichert? Meine Angebetete erhob sich vom Sofa. "Das ist eine riesen Chance für mich, Leila!" Ich verstand nicht genau, was sie meinte. Sie grinste. "Ich habe die Möglichkeit, die Karriere von diesem Arsch zu zerstören. Und ich werde ihn bluten lassen", sprach sie diabolisch. Mir wurde heiß im Genick. "Ähm... Cassy. Meinst du, du willst ihn erpressen?" 

Sie schüttelte den Kopf. "Nein, nicht doch! Naja... vielleicht doch, ein bisschen." Ich zog die Augenbrauen hoch. Cassy seufzte. "Hör mal, Zuckerstück. Ich hab ihn ein perverses Schwein genannt und gesagt, dass ich kündige und das vor zwei Kolleginnen. Das war's. Meinen Job dort bekomme ich sicher nicht wieder, auch wenn ich ihn verklage. Ich habe von mir aus gekündigt."

Nun war sie diejenige, die im Raum auf und ab ging. "Aber wenn ich von einer Anzeige absähe, und ihm ein Angebot machte, bei dem er mir  etwas entgegen kommen müsste, kann bestünde die Möglichkeit..." Oje, dieser Konjunktiv gefiel mir gar nicht. "... es so zu drehen, als hätte er mich gekündigt  - natürlich nur auf dem Papier - und dann habe ich Anspruch auf eine nette Abfindung, die in diesem Fall wohl etwas höher als gewöhnlich ausfallen wird, da sich Herr Weber auch von seinen Sünden freikaufen muss. Und wem, wenn nicht dem Leiter eines Kindergartens, liegt sein Seelenheil so sehr am Herzen? Nur um der Kinder willen, natürlich." Sie streckte die Zunge raus und zwinkerte mir zu. Was für ein gewieftes, hinterhältiges Biest sie doch sein konnte. 

"Und du glaubst, dass das funktioniert?", fragte ich. Cassy nickte überzeugt. "Oh ja, ganz bestimmt. Denn ich werde ihm nicht nur ein Gerichtsverfahren wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz androhen, sondern auch, dass ich mit dem Fall an die Öffentlichkeit gehen werde. Für die Presse ist das ein gefundenes Fressen. Sie würden ihn in der Luft zerreißen." Sie grinste diabolisch. Ich verdrehte die Augen. "Aber ist es nicht moralisch betrachtet das Beste, ihn anzuzeigen? Allein schon wegen der Tatsache, dass er dich angefasst hat. Was, wenn es wieder passiert? Wenn er eine von deinen Kolleginnen blöd anmacht oder angreift? Oder noch schlimmer! Was, wenn das bereits passiert ist? Wenn er schon eine von deinen Kolleginnen unpässlich berührt hat. Wenn eine oder mehrere Kolleginnen einen psychischen Schaden wegen diesem Sack haben und sich nicht trauen, etwas zu sagen, weil sie Angst haben, ihren Job zu verlieren?" Cassy verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr nachdenklicher Blick wanderte durch den Raum. "Daran hatte ich gar nicht gedacht..." Mit beiden Händen fuhr sie durch ihr  blondes Haar. "Scheiße...", murmelte sie leise. Breitbeinig stellte sie sich vor mich und stemmte die Hände in die Hüfte. "Aber was soll ich denn machen? Ich kann nicht einfach so jeden vor Gericht zerren. Muss ich dafür nicht bezahlen? Einen Anwalt und so weiter? Ich kann mir so ein Verfahren nicht leisten", jammerte sie. 

Seufzend kratzte ich mich an der Nase. "Aber zahlt das Gerichtsverfahren nicht in der Regel derjenige, der es verliert?", fragte ich wild gestikulierend. Ich steigerte mich viel zu sehr in die Sache hinein. Cassys skeptischer Blick traf mich wie ein Kinnhaken. "Wo hast du denn das her? Von Law and Order?", entgegnete sie mit sarkastischem Unterton. "Nein, Drop Dead Diva", korrigierte ich sie mit leiser Stimme. 

"Na toll. Wirklich großartig!", stöhnte meine Freundin. "Da haben wir uns ja mal wieder in eine bescheidene Situation manövriert!" Meine Augen suchten den ganzen Raum ab. An einem blauen Bilderrahmen auf der Kommode blieb mein Blick haften. Stella und ich waren auf dem Foto darin abgebildet, bei unserer Abschlussfeier. "Stella", murmelte ich. Cassy blinzelte mir zu. "Stella", wiederholte ich. "Das ist die Lösung. Wir müssen einfach Stella fragen. Seit ich sie kenne hatte sie immer die besten Ideen, um aus bescheidenen Situationen wieder herauszukommen. Ihr fällt bestimmt etwas ein. Wenn sie nach Hause kommt, dann reden wir mit ihr. Verlass dich drauf, das funktioniert bestimmt. Sie ist sowas wie das Orakel." 

Cassy nickte. Sie glaubte mir. Mittlerweile waren Stella und sie auch so etwas wie gute Freundinnen geworden und sie wusste um ihre herausragenden Fähigkeiten, jede Situation zu meistern. 

Meine Haare waren ekelhaft struppig vom Regen draußen und ich sehnte mich nach einer heißen Dusche. "Was tust du da?", fragte Cassy, als ich ihren Pullover auszog. Diese Handlung hatte nichts Erotisches an sich. Ich küsste sie nicht, befummelte sie nicht. Ich zog sie einfach nur aus. "Mich stört deine Kleidung. Die muss jetzt weg", entgegnete ich leichthin. Cassy kicherte und ich schnippte ihren BH auf. "Stört dich die Hose auch?", fragte sie verspielt. "Natürlich", antwortete ich. "Die stört mich am allermeisten. Die muss jetzt sofort weg!" Cassy lachte kreischend, als ich ihr die Hose auszog. Während sie sich auch noch ihrer Unterhose und Socken entledigte, zog ich mich selbst aus. Dann nahm ich sie an der Hand und führte sie ins Badezimmer, wo wir uns gemeinsam unter den heißen Wasserstrahl der Dusche stellten. Es war so angenehm. Wir standen einfach nur da und ich hielt sie im Arm. 

Eine halbe Stunde später saßen wir in Bademäntel gehüllt im Wohnzimmer und tranken Tee. Ich hörte das Türschloss klicken und wenige Augenblicke später hatte Stella die Wohnung betreten. "Gut, dass du da bist", sagte ich gleich. "Wir haben ein Problem und brauchen ganz dringend deine Hilfe." Stella sah mich wortlos an. So einen Gesichtsausdruck hatte ich bei ihr noch nie zuvor gesehen. Sie schnaubte missgünstig. "Ja klar! Ihr braucht wieder mal Hilfe. Ihr habt es mal wieder geschafft, die Kacke zum Dampfen zu bringen und ich darf die Lösung für eure Probleme liefern." Cassy und ich sahen sie entsetzt an. Ich wusste nicht, was ich entgegnen sollte. "Sta... Was- ?" Doch sie unterbrach mich: "Ich kann das nicht mehr hören. Cassy hier, Leila da, Probleme überall, Schatz, Zuckerstück. Leck mich doch! Mir reicht's!" 

Mein Atem stockte. Was war bloß mit ihr los? Cassy brachte kein Wort hervor. "Stella...", begann ich, doch sie ließ mich erneut nicht sprechen. "Mir reicht's mit euch. Immer geht's nur um euch und eure unnötig komplizierte Beziehung. Schon mal dran gedacht, dass ich meine eigenen Probleme hab, um die ich mich kümmern muss und die sonst keinen Schwanz interessieren? Dass ich zum Beispiel heute beim Bewerbungsgespräch meine elfte Absage in zwei Wochen bekommen hab? Hat mich eine von euch in den letzten Wochen gefragt, wie's bei mir läuft? Määäp, nein. Also braucht ihr auch nicht von mir zu erwarten, dass ich mich jetzt wieder rührend um euch kümmere. Ihr habt eh schon eure ganze Beziehung mir zu verdanken, jetzt kümmert euch gefälligst auch selbst drum. Stella Ende." Sie wandte uns den Rücken zu und ging in ihr Zimmer. "Und Cassy, du trägst meinen Bademantel!", schrie sie noch.

Wir beide sahen uns schweigend an. Was zur Hölle ging denn da ab?




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