# 10

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Er.

Am Frühstückstisch angekommen, eröffnete sich vor mir ein wahres Fest der Sinne. Kahvaltı – das türkische Frühstück – war etwas ganz Besonderes, und heute hatte meine Schwester es mal wieder perfektioniert. Der Duft von frisch gebratenen Menemen – Rührei mit Tomaten und Paprika – stieg mir in die Nase. Ein Korb voll Simit, diesen sesambedeckten runden Brötchen, stand in der Mitte des Tisches, umgeben von kleinen Schalen mit Beyaz Peynir (weißer Käse), Zeytin (Oliven), Domates (Tomaten), Salatalık (Gurken) und Bal (Honig) – alles, was das Herz begehrte.

Neben dem Menemen dampfte frisch gebratener Sucuk – würzige Rindersalami, die immer noch leicht in der Pfanne brutzelte – und ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Pişi, kleine frittierte Teigbällchen, türmten sich auf einem Teller, und überall standen Gläser mit heißem, schwarzen Tee, der unverzichtbare Begleiter eines türkischen Frühstücks.

Mein Blick wanderte über den Tisch, und ich konnte mir ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen. Der Anblick und der Duft ließen meinen Magen knurren. Ich nahm mir einen Teller und begann, alles aufzutragen – etwas von dem fluffigen Börek, das meine Schwester so perfekt hinbekam, ein Stück Kaşar Peyniri (Hartkäse) und ein paar Scheiben von der saftigen Pastırma (getrockneter Rinderschinken).

Es war mehr als nur ein Frühstück. Es war ein Moment, den man mit der Familie teilte, ein Gefühl von Zusammenhalt und Wärme. „Du vermisst das Hausgemachte, nicht wahr?" sagte meine Schwester lachend und legte ihr Besteck ab, als sie sah, wie ich mich über die Speisen hermachte.

Ich grinste, nahm einen Bissen von der Menemen, die so perfekt gewürzt war, und zuckte die Schultern. „Natürlich vermisse ich es. Nichts geht über dein Frühstück." Ich war ehrlich – nichts schmeckte so gut wie das, was sie auf den Tisch zauberte.

Meine Schwester, die mir gegenüber saß, warf mir diesen typischen besorgten Blick zu, der alles bedeutete. Sie wusste, dass ich nicht gerne über solche Themen sprach, doch heute würde sie es nicht vermeiden können. „Warum kommst du nicht zurück nach... sagen wir, wenigstens nach Stuttgart? Mama und Baba fragen ständig nach dir, Baran. Es wäre doch viel einfacher für dich, wenn du in der Nähe der Familie wärst."

Ich ließ mein Besteck für einen Moment sinken und sah sie an. Stuttgart. Ja, da wohnten meine Eltern. Aber für mich bedeutete es, wieder in das Netz von Erwartungen und ständigen Diskussionen um meine Zukunft zurückzukehren. „Weil ich schon mein eigenes Leben aufgebaut habe," entgegnete ich knapp und ließ meinen Blick zu Ali, meinem kleinen Neffen, wandern, der fröhlich mit einem Stück Simit spielte. Seit fünf Jahren lebte ich nun in Frankfurt am Main, seit ich damals zum Bachelorstudium ausgezogen war. Ich hatte ein neues Leben aufgebaut, eines, das mir gehörte – weit weg von den ständigen Diskussionen meiner Eltern.

„Aber du hast dich doch total von Mama und Baba abgeschottet", fuhr meine Schwester fort und sprach das Thema an, das wie ein stiller Elefant im Raum stand. Ihre Stimme klang ruhig, aber ich konnte den Vorwurf in ihren Augen sehen.

Ich schluckte meine Frustration herunter und legte mein Besteck zur Seite, bevor ich sie direkt ansah. „Sie haben es so gewollt." Meine Worte waren knapp, fast abgehackt, aber in ihnen lag eine Entschlossenheit, die ich nicht zurücknehmen konnte. „Mama und Baba haben mich immer in diese Ecke gedrängt, immer diese Erwartungen. Sie wollten, dass ich tue, was sie für richtig halten." Ich sah, wie die Worte im Raum hingen, und meine Schwester wurde still, aber ich spürte ihre Blicke auf mir. „Ich kann nicht zurückgehen und so tun, als wäre nichts. Ich habe hier etwas aufgebaut, etwas, das mir gehört."

Das Schweigen danach war schwer. Meine Schwester, die nach ihrer Hochzeit nach Mannheim gezogen war, sah mich lange an. Es war nicht das erste Mal, dass wir diese Diskussion führten, aber heute schien es endgültiger. Seit ihrer Hochzeit vor sechs Jahren war sie nach Frankfurt gekommen, um in der Nähe der Familie zu sein – und auch, um näher bei mir zu sein. Aber ich hatte damals bewusst den Weg nach Frankfurt gewählt, um Abstand zu gewinnen. Um mein eigenes Leben zu führen, ohne ständig unter den wachsamen Augen meiner Eltern zu stehen.

„Ich verstehe, dass du dein Leben aufgebaut hast," sagte sie schließlich, ihre Stimme sanfter. „Aber wir vermissen dich. Du bist so distanziert, und das tut uns weh."

Ich seufzte leise. Es war nicht so, dass ich meine Familie nicht vermisste – besonders meine Schwester. Aber das Leben in Frankfurt hatte mir eine Freiheit gegeben, die ich in Stuttgart nie gefunden hätte. Dort hätte ich immer in meiner Rolle als der „gute Sohn" gefangen gesteckt, immer den Erwartungen meiner Eltern ausgesetzt.

„Danke für das Essen," sagte ich schließlich und schob meinen Stuhl zurück. Ich wusste, dass sie mehr hören wollte, aber ich konnte nicht länger in dieser Diskussion bleiben. Es fühlte sich an, als würde mir die Luft zum Atmen fehlen. „Ich muss los," fügte ich hinzu, ohne wirklich eine Entschuldigung zu suchen. Es war nicht der Moment, um weiter darüber zu reden.

Als ich das Haus meiner Schwester verließ und zu meinem Auto ging, ließ ich einen tiefen Atemzug der Erleichterung aus meinen Lungen entweichen. Die Gespräche mit meiner Familie über meine Zukunft und meine Entscheidungen hinterließen immer ein beklemmendes Gefühl in mir. Ich setzte mich in mein Auto, ließ die Finger fest um das Lenkrad gleiten und atmete noch einmal tief durch. Frankfurt war mein Zuhause. Hier hatte ich mein Leben aufgebaut, meine Karriere als Wirtschaftsinformatiker vorangetrieben und ein stabiles Leben geschaffen. Ich hatte mich bewusst gegen Stuttgart und die Nähe meiner Eltern entschieden, weil ich nicht ständig unter ihrer Kontrolle stehen wollte.

Als der Motor brummte und ich den Rückspiegel einstellte, konnte ich sehen, wie die Wut und Frustration in meinem Gesicht sichtbar wurden. Ich schlug leicht auf das Lenkrad, um den Druck abzulassen, der sich in mir aufgestaut hatte. Doch ich konnte mich nicht länger mit diesen Gedanken aufhalten. Ich hatte wichtige Aufgaben zu erledigen.

Meine Karriere in Frankfurt war ein Erfolg. Ich arbeitete in einer renommierten Firma als Wirtschaftsinformatiker und war bereits in einer führenden Position für einige wichtige Projekte zuständig. Auch wenn ich noch im dritten Semester meines Masterstudiums war, hatte ich mir schon jetzt einen Namen gemacht. Es war ein harter Weg gewesen, aber ich war stolz auf das, was ich erreicht hatte. Frankfurt war mein Zuhause – und hier wollte ich bleiben.

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug, und ich hatte kaum einen Moment, um Luft zu holen. Die Uni? Fehlanzeige. Ich war so in Arbeit versunken, dass ich es einfach nicht schaffte, auch nur einen Fuß auf den Campus zu setzen. Die Firma hatte mich voll im Griff – das neue Projekt, die Abgabe am Freitag, all das fraß meine Zeit. Es war mir klar, dass ich hier punkten musste. Jeder Schritt zählte, jeder Fehler könnte mich teuer zu stehen kommen.

Ich lehnte mich an den Schreibtisch in meinem Büro, umgeben von Stapeln von Unterlagen und meinem Laptop, auf dem die Projektpläne blinkten. Mein Kopf war voll mit Codezeilen, Datenanalysen und Business-Prozessen, und die Zeit tickte unaufhaltsam. Es gab keinen Raum für Ablenkungen – nicht mal die kleinste.

Baran, du hast das drauf. Das hier ist dein Moment. Ich redete mir immer wieder ein, dass all der Stress und die langen Nächte sich lohnen würden. Schließlich hatte ich mir diesen Job erkämpft, hatte mich durch jedes Semester und jede Herausforderung gezogen, um hier anzukommen. Doch während die Tage verstrichen, spürte ich, wie der Druck immer mehr auf mir lastete.

Am Mittwoch war ich aufgestanden, als mein Wecker klingelte, und hatte nicht mal daran gedacht, dass ich eigentlich zu einer Vorlesung musste. Alles, woran ich denken konnte, war das Meeting um 10 Uhr, die Präsentation, die ich für den Kunden fertigstellen musste, und die Abgabe der Projektarbeit am Freitag. Es gab keine andere Priorität.

Die Fahrt ins Büro an diesem Tag war wie in einem Tunnel. Die Straßen flogen an mir vorbei, und ich konzentrierte mich auf das, was vor mir lag. Fehler konnte ich mir nicht erlauben. Nicht jetzt. Als ich das Bürogebäude erreichte, war mein Kopf bereits voller Pläne. Meine To-Do-Liste? Ein Albtraum. Aber das Projekt musste fertig werden – es war mein Aushängeschild.

Während ich meinen Laptop aufklappte und die Dateien durchging, die ich aus dem Firmensystem gezogen hatte, meldete sich mein Handy. Es war Azad, wahrscheinlich um zu fragen, wo ich steckte. Er hatte schon seit Montag gefragt, warum ich nicht in der Uni war. Aber ich wusste, dass ich mich erst am Freitag wieder blicken lassen würde – wenn überhaupt.

„Hey, was geht?" hörte ich seine Stimme durch den Lautsprecher, als ich den Anruf entgegennahm.

„Arbeit. Viel Arbeit," antwortete ich knapp, während ich parallel die Projektpläne durchging. „Ich muss Freitag was abgeben. Du weißt, wie's läuft."

„Krass, du lässt uns ja komplett hängen. Die Mensa fühlt sich leer an ohne dich," er lachte leicht, aber ich konnte die Neugier in seiner Stimme hören. „Und... hast du das mit Asia geklärt?"

Ich seufzte leise. Asia. Sie war seit Tagen aus meinem Kopf verschwunden, verdrängt von dem Stress der Arbeit. „Ich hab grad keinen Kopf für sie. Muss mich um die Abgabe kümmern, Bruder. Ich klär das später."

Azad lachte kurz auf, als hätte er es kommen sehen. „Du weißt schon, dass du das nicht ewig aufschieben kannst, oder?"

„Ich weiß, ich weiß," murmelte ich und klappte das Projektfenster zu. „Aber jetzt nicht. Ich muss los."

Als ich das Gespräch beendete, blickte ich aus dem Fenster des Büros auf die Frankfurter Skyline. Alles fühlt sich so an, als wäre ich in zwei Welten gleichzeitig. In der einen Welt war ich der Student, der seinen Master in Wirtschaftsinformatik durchziehen musste. In der anderen war ich der Typ, der in der Firma Verantwortung trug, sich hocharbeitete und etwas aufbaute. Manchmal fühlte es sich an, als würde ich zwischen diesen beiden Leben hin und her springen, ohne jemals wirklich an einem Ort anzukommen.

Aber im Moment war klar: Die Firma hatte Vorrang. Wenn das Projekt durchging, könnte ich meine Position festigen, mir mehr Raum verschaffen und vielleicht sogar endlich mal wieder durchatmen. Doch bis dahin war das alles ein Kampf gegen die Zeit, und die Uhr tickte unaufhaltsam.

Ich atmete tief durch und setzte mich wieder an den Schreibtisch. Keine Fehler jetzt. Es war Mittwoch, und der Freitag lauerte schon um die Ecke.

Es war Freitagmittag, und ich saß im Konferenzraum der Firma. Vor mir lag das fertige Projekt – Wochen harter Arbeit, Nächte ohne Schlaf und gefühlt tausend Tassen Kaffee. Mein Herz pochte, als ich die letzten Unterlagen über den Tisch schob. Der Raum war voller Anzugträger und Führungskräfte, die ihre kritischen Blicke über die Papiere schweifen ließen. Ich wusste, dass jeder Fehler hier eine Menge Ärger bedeuten konnte, aber ich war vorbereitet. Das war mein Moment.

„Also, das sind die finalen Dokumente für das Projekt," sagte ich, versuchte ruhig zu klingen, obwohl ich innerlich gespannt wie ein Bogen war. „Alle Prozesse wurden durchgetestet, und die Daten sind komplett optimiert."

Der Projektleiter, ein Mann Mitte vierzig mit strengem Blick und grauem Haar, nahm die Unterlagen entgegen und nickte langsam, während er sie durchging. Es war dieser Moment des Wartens, der mir immer auf die Nerven ging – als ob jede Sekunde ein Urteil über die letzten Wochen fällen könnte.

„Gut gemacht, Baran," sagte er schließlich und legte die Papiere beiseite. „Wir sind zufrieden mit der Arbeit. Ich denke, das Projekt ist abgeschlossen."

In dem Moment fühlte es sich an, als wäre eine riesige Last von meinen Schultern gefallen. Freiheit. Endlich. Ich lächelte, wohl das erste Mal seit Tagen, ohne dass es gezwungen wirkte.

„Danke," erwiderte ich knapp und zog innerlich einen tiefen Atemzug. Das war's. Ich hatte es geschafft.

Das Meeting zog sich noch ein paar Minuten hin, aber mein Kopf war schon woanders. Jetzt, wo der Druck abfiel, schwirrten meine Gedanken wieder zur Uni zurück – und zu allem, was ich in den letzten Tagen hatte verdrängen müssen. Asia. Ich war seit Montag nicht mehr an der Uni gewesen, seit dieser verdammten Auseinandersetzung mit ihr in der Mensa. Montagabend hatte ich noch bei meiner Schwester in Mannheim verbracht, um ein bisschen Abstand zu gewinnen. Aber dann war der Stress der Arbeit alles gewesen, worauf ich mich konzentrieren konnte. Bis jetzt.

Als ich schließlich das Bürogebäude verließ, fühlte ich den frischen Wind auf meiner Haut und warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Es war noch früh am Nachmittag, aber ich wusste, dass ich in die Uni musste. Ich hatte eine Vorlesung, die ich nicht verpassen durfte. Und außerdem konnte ich mich nicht ewig vor Asia und all dem Drama verstecken, das sich aufgestaut hatte.

Der Weg zur Uni war kurz, aber während ich durch die Straßen Frankfurts fuhr, kreisten meine Gedanken unaufhaltsam um das, was noch vor mir lag. Es war Zeit, wieder nach vorne zu schauen. Der ganze Ärger mit Asia... ich musste es klären, aber ich wusste noch nicht, wie. Das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte, hatten wir uns so heftig gestritten, dass ich dachte, es gäbe kein Zurück mehr. Aber jetzt, mit dem ganzen Arbeitsstress im Rücken, fühlte sich der Streit auf einmal wie eine Nebensache an, die sich lösen ließ – wenn auch nicht einfach.

Ich kam an der Uni an, parkte mein Auto und zog tief die Luft ein. Es fühlte sich seltsam an, wieder hier zu sein. Nach fast einer Woche Abstinenz war alles wie immer – Studenten liefen durch die Gänge, trugen schwere Taschen voller Bücher und starrten auf ihre Handys, während sie in die Vorlesungssäle eilten.

Ich machte mich auf den Weg zur Vorlesung, das Gefühl der Normalität kehrte langsam zurück. Es war fast, als hätte sich nichts geändert, aber in meinem Kopf war noch immer der Schatten dessen, was am Montag geschehen war.

Als ich den Vorlesungssaal betrat, suchte ich schnell einen Platz etwas abseits. Die Ruhe vor dem Sturm. Der Dozent war noch nicht da, und die ersten Studenten saßen bereits verstreut in den Reihen. Ich setzte mich hin, legte meinen Rucksack neben den Stuhl und atmete tief durch.

Okay, Baran. Jetzt geht's weiter.

Es war Freitag, und ich saß in der Vorlesung „Datenanalyse und Business Intelligence", eine der anspruchsvollsten Veranstaltungen im 3. Semester meines Masterstudiums. Der Saal war bereits halb voll, als ich hereinkam, und wie immer hatte der Professor schon ein paar Folien an die Wand geworfen, obwohl noch einige Studenten draußen herumschlenderten. Daten, Algorithmen, Entscheidungsmodelle – die übliche Mischung aus trockenen Konzepten, die uns zu Wirtschaftsinformatik-Experten machen sollten.

Ich hatte mich etwas verspätet, also war es keine Überraschung, dass die Plätze neben mir leer waren. Kein Azad, kein Rojilat, niemand, den ich kannte. Die Gruppe hatte sich schon vorher eingefunden, und ich wollte nicht die Aufmerksamkeit auf mich ziehen, indem ich mich irgendwo dazwischenquetschte. Also blieb ich einfach allein sitzen, ziemlich nah am Rand, damit ich schnell wieder raus konnte. Mein Kopf war immer noch halb bei der Arbeit, bei dem Projekt, das ich endlich abgeschlossen hatte, und dem Gedanken, dass ich jetzt wieder hier an der Uni war – in dieser anderen Welt, die ich fast eine Woche lang ausgeblendet hatte.

Während der Dozent mit monotoner Stimme durch die Folien ging, vibrierte mein Handy in der Tasche. Azad.

„Endlich bist du wieder da, Bruder! Hab schon gedacht, du bist abgetaucht," stand in der WhatsApp-Nachricht, gefolgt von einem lachenden Emoji. Ich konnte das breite Grinsen auf seinem Gesicht fast spüren.

Ich antwortete schnell, ein kurzes „Musste was für die Arbeit durchziehen, bin aber wieder da." Es fühlte sich komisch an, ihm das zu schreiben. Ja, ich war zurück, aber irgendwie fühlte sich alles anders an. Vielleicht lag es an der Auseinandersetzung mit Asia, vielleicht daran, dass ich mich so lange in die Arbeit gestürzt hatte, dass ich die Uni fast verdrängt hatte. Aber jetzt, wo ich wieder hier war, spürte ich, dass die Dinge nicht so einfach weiterlaufen würden wie vorher.

Azad schrieb sofort zurück: „Lass uns nach der Vorlesung quatschen. Wir müssen über Montag reden." Ein ernsteres Emoji folgte, und ich wusste genau, was er meinte. Asia. Natürlich würde das Gespräch früher oder später auf sie kommen.

Ich legte das Handy zur Seite und versuchte, mich auf die Vorlesung zu konzentrieren. Doch mein Kopf war wie immer woanders. Datenanalyse interessierte mich, klar, aber heute? Heute drehte sich alles um die Fragen, die ich mit mir herumschleppte. Die Arbeit hatte mich eine Weile abgelenkt, aber jetzt, wo der Stress vorbei war, musste ich mich den anderen Dingen stellen.

Als die Vorlesung endlich vorbei war, fühlte es sich an, als wäre der Tag noch lange nicht zu Ende. Eine halbe Stunde Pause – das bedeutete genug Zeit, um sich in die Cafeteria zu schleppen und einen schnellen Snack zu holen, bevor es weiterging. Azad wartete schon draußen auf mich, lehnte lässig an der Wand des Vorlesungsgebäudes, als ich rauskam.

„Endlich," sagte er mit einem Grinsen, „Ich dachte, du wärst komplett abgetaucht in deiner Arbeit."

Ich zuckte mit den Schultern. „So fühlt es sich auch an, Bruder. Aber jetzt bin ich wieder hier."

Gemeinsam gingen wir in Richtung Cafeteria, der sanfte Frühlingswind trug den Duft von frischen Blüten mit sich, während die Bäume langsam wieder grün wurden. Obwohl es noch kühl war, lag etwas Leichtes in der Luft, das den langen, stickigen Stunden im Vorlesungssaal entgegenwirkte. Drinnen war die Cafeteria wie immer überfüllt, doch wir fanden eine Ecke, in der es etwas ruhiger war. Während Azad an der Theke einen Snack holte – irgendwas zwischen einem belegten Brötchen und einem Schokoriegel – schnappte ich mir einen Kaffee und ein Sandwich.

Wir redeten über alles und nichts, während wir in einer Ecke standen, beide irgendwie noch halb im Stressmodus der Woche. Azad erzählte von seinem Projekt, wie er sich mit einem Dozenten gestritten hatte, und ich lachte, während ich einen großen Schluck von meinem Kaffee nahm. Für einen Moment fühlte sich alles normal an – einfach Smalltalk zwischen zwei Freunden, ohne Drama, ohne Probleme.

„Und, wie war deine Woche? Hast ja ziemlich hart reingehauen," fragte Azad, während er in sein Brötchen biss.

„Stressig, aber gut. Das Projekt ist durch, hab's heute Morgen abgeschlossen," sagte ich und lehnte mich an den Tisch hinter mir. „Jetzt kann ich wieder durchatmen."

Azad nickte, aber ich konnte sehen, dass er nicht nur über Arbeit und Stress reden wollte. Irgendwas beschäftigte ihn. Schließlich sah er sich kurz um, als wolle er sicherstellen, dass uns niemand zuhörte, und trat dann ein Stück näher. Seine Stimme wurde leiser.

„Ich muss dir was sagen," begann er, und sofort wusste ich, dass es ernst wurde. „Ich hab mit Asia gesprochen."

Ich spürte, wie mein Magen sich leicht zusammenzog, als er ihren Namen erwähnte. „Was ist mit ihr?"

Azad schaute mich kurz an, als ob er überlegte, wie er das am besten sagen sollte. „Sie hat zugegeben, dass sie dich wirklich küssen lassen wollte."

Bam.

Seine Worte trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube. Für einen Moment sah ich ihn einfach nur an, versuchte zu verarbeiten, was er gerade gesagt hatte. Asia hat es zugegeben? Die gleiche Asia, die mich vor all ihren Freunden als Lügner abgestempelt hatte? Diejenige, die in der Mensa wütend auf mich losgegangen war, als ob ich das alles erfunden hätte?

„Sie hat was?" fragte ich, meine Stimme härter als ich wollte. Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug, während die Erinnerung an unser letztes Treffen in mir hochkochte. Die Hitze, die Anspannung, und dann ihr kaltes Verhalten, als sie mich öffentlich bloßstellte. „Sie hat mich doch vor allen als Lügner hingestellt."

Azad nickte langsam, sein Blick fest auf mir. „Ich weiß. Aber anscheinend hat sie es sich später eingestanden. Sie wollte es. Sie hat es gespürt, und das hat sie richtig durcheinandergebracht. Deswegen hat sie so heftig reagiert."

Ich ließ den Kaffeebecher sinken und starrte in die Leere vor mir. Die Wahrheit. Asia hatte es also doch gefühlt – genau wie ich. Der Moment in diesem kleinen Raum, als alles um uns herum verschwand und nur diese Anziehungskraft zwischen uns beiden blieb, war nicht nur in meinem Kopf gewesen. Aber anstatt das zuzugeben, hatte sie mich öffentlich bloßgestellt, mich in eine Ecke gedrängt.

„Ich dachte, sie hasst mich," murmelte ich, immer noch damit beschäftigt, die Informationen zu verarbeiten.

„Vielleicht hasst sie dich auch. Aber nicht so, wie du denkst," meinte Azad und grinste leicht, nahm einen weiteren Bissen von seinem Brötchen und sprach mit vollem Mund weiter. „Manchmal ist Hass nur eine Maske für andere Sachen, weißt du?"

Ich schnaubte, aber das Grinsen wollte nicht so richtig kommen. In meinem Kopf drehte sich alles um diesen einen Moment – den Moment, als Asia mich ansah, die Augen schloss und darauf wartete, dass ich sie küsse. Der Moment, der alles verändert hätte... und dann diese Wut, die alles zerstört hatte.

„Was machst du jetzt?" fragte Azad und sah mich neugierig an.

Ich nahm einen tiefen Atemzug und schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, Mann. Aber sie hat mir echt einen reingewürgt mit dieser Lügner-Nummer. Das kann ich nicht so einfach vergessen."

Azad nickte verständnisvoll, während er sein Brötchen aufaß. „Ja, das war echt heftig. Aber jetzt weißt du zumindest, was wirklich in ihr vorgeht."

Ich zuckte mit den Schultern. Wissen war das eine. Aber was sollte ich damit anfangen?

Ich stand noch in der Cafeteria, den Kaffeebecher in der Hand und überlegte, ob ich mir noch einen Snack holen sollte, als mein Blick durch den Raum schweifte und ich Asia in einer Ecke der Cafeteria entdeckte. Sie stand mit ihren Freundinnen – Sema, Merican und ein paar anderen – und unterhielt sich, während sie ab und zu nervös um sich schaute. Es war klar, dass sie nicht ganz bei der Sache war. Irgendwas schien sie abzulenken, und ich ahnte schon, warum.

Doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, sah ich, wie Rojilat auftauchte. Sein Blick war fixiert auf Asia, ein spöttisches Grinsen auf den Lippen. Er ging direkt auf sie zu, unauffällig und doch zielgerichtet, als hätte er schon einen Plan im Kopf. Ich beobachtete, wie er sich neben sie stellte und im Vorbeigehen plötzlich seinen Fuß leicht vor ihren stellte. Ein fieser Trick, unauffällig, aber genau genug, um ihr Bein zu stellen.

Asia stolperte, und für einen kurzen Moment sah sie so aus, als würde sie das Gleichgewicht verlieren. Ihre Freundinnen griffen sofort nach ihr, hielten sie auf, und während sie sich wieder aufrichtete, drehte sie sich wütend zu Rojilat um, der sie mit diesem unschuldigen Grinsen ansah, als wäre nichts passiert. Pure Provokation.

Ich kniff die Augen zusammen und spürte, wie sich meine Fäuste unwillkürlich ballten. „Echt jetzt?" murmelte ich, mehr zu mir selbst als zu irgendjemand anderem, aber Azad, der neben mir stand, hörte es natürlich sofort.

„Was ist los?" fragte er und folgte meinem Blick, der immer noch auf Rojilat und Asia gerichtet war. „Oh... das."

Ich nickte in die Richtung der kleinen Szene, die sich vor uns abspielte. „Geht das echt schon wieder los? Er kann es nicht lassen, oder?"

Azad seufzte und schüttelte leicht den Kopf, während er sich an die Wand lehnte. „Es hat gar nicht aufgehört, Bruder. Die ganze Woche über lief dieser Scheiß weiter. Asia hält sich zurück, aber Rojilat? Er weiß genau, wie er sie provozieren kann. Seit der Sache in der Mensa lässt er keine Gelegenheit aus, sie zu ärgern."

Ich rieb mir mit einer Hand über das Gesicht und atmete tief durch. Rojilat war ein wandelndes Pulverfass, immer bereit, irgendeinen Funken zu entzünden, und es war offensichtlich, dass er Asia ins Visier genommen hatte. „Warum macht er das?" fragte ich leise, obwohl ich die Antwort schon kannte. Es ging nicht nur um sie. Es ging um das, was sie repräsentierte – die Auseinandersetzung zwischen Türken und Kurden, die in unserer Uni ständig unter der Oberfläche brodelte. Asia und Rojilat waren nur zwei von vielen, aber sie waren laut. Und jetzt, wo das mit mir und Asia passiert war, schien es, als ob Rojilat das als Freifahrtschein sah, um sie noch mehr zu provozieren.

Azad schnaubte und zuckte mit den Schultern. „Er hat seine eigenen Probleme. Aber glaub mir, das zwischen ihm und Asia hat in letzter Zeit ein neues Level erreicht. Jedes Mal, wenn er sie sieht, versucht er, sie zu piesacken. Und sie..." Er zögerte kurz, als würde er überlegen, wie er es am besten ausdrücken sollte. „...sie kämpft dagegen an, aber sie ist kurz davor, auszurasten."

Ich konnte sehen, dass Azad recht hatte. Asia sah aus, als würde sie jeden Moment die Fassung verlieren. Ihre Hände waren fest um die Griffe ihrer Tasche geschlossen, und ihre Lippen waren zu einer dünnen Linie gepresst. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, aber es war offensichtlich, dass Rojilat sie mit jedem weiteren dummen Spruch näher an den Rand brachte.

„Und das geht jetzt schon die ganze Woche so?" fragte ich, meine Stimme leiser, als ich dachte.

Azad nickte langsam. „Ja. Sie versucht, cool zu bleiben, aber jeder hat seine Grenzen. Rojilat hat ihr diese Woche echt zugesetzt."

Ich biss die Zähne zusammen, während ich die Situation beobachtete. Es war schwer, einfach nur dazustehen und zuzusehen, wie das Ganze eskalierte. Das war nicht das, was ich wollte. Ich hatte schon genug Stress mit Asia, aber Rojilat machte die Sache schlimmer, als sie ohnehin schon war.

„Scheiße," flüsterte ich und verschränkte die Arme vor der Brust, während ich weiterhin Rojilat beobachtete, der immer noch sein grinsendes Spiel spielte. Ich wusste, dass das hier nicht gut enden würde.

Ich konnte nicht mehr zusehen. Dieses ständige Hin und Her zwischen Rojilat und Asia – es war wie ein tickender Zeitbombe, und ich wusste, dass sie bald explodieren würde. Verdammt nochmal, dachte ich, als ich den letzten Bissen von meinem Snack runterwürgte und meinen Kaffee wegstellte. Meine Fäuste ballten sich, und ohne weiter nachzudenken, machte ich einen Schritt nach vorne, steuerte direkt auf Rojilat zu, der immer noch grinsend neben Asia stand und sie provozierte.

Azad rief mir leise hinterher: „Bruder, was machst du?", aber ich hatte ihn schon längst ausgeblendet. Es reichte.

In wenigen Schritten war ich bei Rojilat. Ich packte ihn am Arm, vielleicht härter, als nötig gewesen wäre, aber ich konnte den aufgestauten Ärger nicht mehr zurückhalten. Er hatte es verdient. „Was soll der Scheiß, Rojilat?" fragte ich scharf und zog ihn ein Stück von Asia weg. „Lass es einfach gut sein. Hör auf, sie zu provozieren."

Rojilat riss sich kurz los und drehte sich grinsend zu mir um, als wäre das alles nur ein lustiges Spiel. „Was denn, Baran? Was regst du dich so auf? Das hier ist doch nichts," sagte er und zuckte mit den Schultern, als wäre das alles nur ein harmloser Spaß.

Ich ignorierte Asia komplett, die jetzt dicht neben uns stand, und starrte Rojilat an, versuchte, seinen Blick festzuhalten. „Hör auf damit. Es reicht. Wir haben genug Stress hier, wir müssen das nicht auch noch schlimmer machen."

Asia stand nur wenige Schritte von uns entfernt, und ich konnte spüren, wie ihre Wut förmlich in der Luft vibrierte. Ihr Gesicht war angespannt, ihre Augen schmal zusammengekniffen, als sie Rojilat fixierte. Noch bevor ich weiterreden konnte, trat sie einen Schritt nach vorne, ihre Stimme scharf und durchdringend.

„Rojilat, was zur Hölle soll das?" sagte sie, ihre Worte direkt, ohne einen Hauch von Zurückhaltung. „Du bist nicht witzig, und du bist auch kein verdammter Held, wenn du versuchst, mich ständig zu provozieren."

Sie stellte sich aufrecht vor ihn, und obwohl sie kleiner war, hatte sie in diesem Moment eine Stärke, die selbst Rojilat für einen Augenblick zum Schweigen brachte. Ich konnte sehen, dass er sie musterte, als ob er überlegte, ob er noch einen weiteren Spruch ablassen sollte, aber er sagte nichts mehr. Sein Grinsen verschwand, auch wenn er noch nicht aufgab.

„Oh, du bist ja plötzlich mutig geworden," sagte Rojilat schließlich mit gespielter Gelassenheit, seine Augen funkelten gefährlich. „Komm schon, Asia. Wenn du wirklich ein Problem mit mir hättest, würdest du es nicht ständig ignorieren. Du liebst es doch, oder? Das Drama, das Hin und Her. Sonst würdest du nicht jedes Mal mitspielen."

Asia funkelte ihn an, und ich konnte spüren, wie sie sich zusammenreißen musste, um ihm nicht noch mehr an den Kopf zu werfen. Es lag so viel Anspannung in der Luft, dass ich mir sicher war, dass hier gleich irgendetwas explodieren würde.

Ich zog Rojilat ein Stück weiter von ihr weg, aber in dem Moment – diese Sekunde, dieser kleine Moment der Ruhe – schaute ich Asia das erste Mal seit Tagen wirklich wieder in die Augen. Es war, als ob die Welt für einen Augenblick anhielt. Die letzten Tage, all die unausgesprochenen Dinge zwischen uns, schwebten plötzlich zwischen uns in der Luft, schwer und unausweichlich.

Ihre Augen trafen meine, und es war wie ein Schlag.

Über Grenzen hinaus [eine türkisch-kurdische Liebesgeschichte]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt