Kapitel 1

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Erstes Kapitel

"Ich denke, es wird dir guttun.", sagte die sanftmütige Frau mit rotbraunen Haaren gleichsam gutmütig und auch mit einer gewissen Strenge zu ihr. Na sicher wird es mir guttun, dachte sich Nelly. Wem tut es nicht gut in einem Haufen Problemkindern zu sitzen, selbst nicht minder Problemkind. Selbsthilfegruppe. Pah! Wenn Nelly das Wort nur hörte, spürte sie einen gewaltigen Widerstand in sich aufsteigen. Doch egal welche Befürchtungen sie hatte, ihre wöchentlichen Besuche bei der Psychologin mussten schlimmer sein. So redete sie sich gedanklich gut zu. "Versprich mir, dass du hingehst!", forderte ihre Psychologin. Nelly nickte und flüstere ein "Ja". Zufrieden nickte Frau Hefufa-Seruser.
Na, das konnte ja was werden.

Nelly trat mit mulmigem Gefühl in der Magengegend in das seltsam riechende Gebäude ein. Es roch alt und staubig. Ein Kribbeln durchlief ihre Nase und entlud sich in einem Niesen. Sie öffnete eine zweite Tür. Der Raum dahinter war groß und geräumig. Viele Tische standen zusammengeschoben in der Raummitte, die Stühle darum verteilt. An einer Seite saßen bereits zwei Jungen miteinander plaudernd nebeneinander. Anscheinend waren sie Freunde. Ein Mädchen war damit beschäftigt auf ein Smartphone zu tippen, als ginge es dabei um ihr Leben. Vermutlich spielt sie Piano Tiles, dachte sich Nelly. Etwas verloren saß ein weitere Junge am Tisch. Ehe sie sich diesen genauer ansehen konnte, schob sich das Gesicht einer jungen Frau in ihr Blickfeld. "Willkommen in unserer Selbsthilfegruppe.", sagte die Frau freundlich, und hielt ihr die Hand hin. Erst wollte Nelly diese ignorieren, doch dann erinnerte sie sich an ihren Vorsatz und die Worte ihrer Psychologin. Verhalte dich normal, dann musst du nicht oft kommen - gib den Leuten eine Chance. Ersteres war ihr Vorsatz, letzteres stammte nicht von ihr. Nelly nahm die Hand, schüttelte sie kurz, nannte ihren Namen und ließ sich dann von der Frau einen Platz zuweisen. Nelly saß gegenüber von den beiden Jungen die zwar immer noch miteinander sprachen. Jedoch blieb ihr nicht verborgen, dass einer von ihnen ständig zu ihr herüber schielte. Sie überlegte kurz ein Blickduell zu starten, ließ es dann aber bleiben. Sie war nicht in der Stimmung.
Um sich die Langeweile zu vertreiben, begann sie zu zählen.
Sie zählte die Leute im Raum, doch jedesmal, wenn ihr Blick auf den Jungen fiel, der sie die ganze Zeit ansah, versank sie in seinen Augen und vergaß die Zahl, bei der sie war. Warum starrte er sie so an? Nur weil sie neu war? Sein intensiver Blick war ihr unangenehm. Anfangs zumindest. Doch mit der Zeit genoss sie es, beachtet zu werden, und wandte den Blick nicht mehr ab, nein, sie musterte ihn genau so, wie er sie. Sein Gesicht und seinen Oberkörper bis zur Tischfläche. Er war trainiert und muskulös. Seine hohen Wangenknochen ließen sein Gesicht ernst wirken. Ernst, aber nicht verbittert. Sein Mund deutete ein leichtes Lächeln an. Ihr Blick wanderte zu seinen Augen zurück. In seinem Blick lag Belustigung, er hatte eine Augenbraue hochgezogen. Plötzlich war es Nelly peinlich, dass sie ihn so angestarrt hatte und sie errötete leicht. Glücklicherweise klopfte in diesem Moment ein Junge dem, der sie unablässig anstarrte, auf die Schulter und er wandte den Blick ab. Jetzt endlich konnte Nelly tun, was sie eigentlich vorhatte. Sie zählte die Leute am Tisch.
Der Raum füllte sich und die Stille wurde durch Gespräche von Tischnachbarn, Begrüßungen oder sonst etwas vertrieben. Nur für Nelly blieb alles still.
Jeder schien jemanden zu kennen, selbst der anfangs verloren wirkende Junge blieb nicht lange allein. Nelly hasste es, in einer Gruppe niemanden zu kennen. Niemand schien zu bemerken, dass sie sich unwohl fühlte. Dass der Junge ihr gegenüber immer noch zu ihr herüber starrte, trug nicht dazu bei, dass es ihr besser ging.
Sie schaute auf die Uhr: zwei Minuten vor Fünf. Die letzten beiden Minuten verbrachte sie damit, Sekunden zu zählen. Nelly war kein Mensch, der schnell Kontakte knüpfte. Sie war kein offener Mensch, brauchte auch nicht rund im die Uhr jemanden um sich. Aber dass sie niemand ansprach, verletzte sie doch. Besser gesagt, sie war ein wenig traurig deswegen.
"... wir wollen anfangen!" Lees Lippenbewegungen rissen sie aus ihren Gedanken. Sofort wurde es ruhig im Raum. "Wir haben ein neues Mitglied. Am besten sagt ihr alle euren Namen und noch etwas über euch. Leander, fang du doch an.", forderte sie einen Jungen auf. Nelly ließ ihren Blick suchend durch den Raum schweifen um den auszumachen, der zum Sprechen aufgefordert worden war. Der Junge, der ihre gegenübersaß und sie schon die ganze Zeit beobachtet hatte, rappelte sich auf und fing an zu sprechen. Nelly hatte das Gefühl, dass er sie selbst dabei nicht aus den Augen ließ. "Ich heiße Leander. Mein Traum ist es, Profifußballer zu werden." Die beiden Jungen, die links und rechts neben Leander saßen, senkten betreten die Köpfe und starrten auf den Tisch. Auch Lees Lächeln schien eher gezwungen zu sein. Sie sah aus, als hätte sie gerade eine saure Zitrone gebissen. Bevor Nelly zu sehr darüber nachdenken konnte, ergriff der Junge rechts von Leander das Wort.
Elf Vorstellungen später schwirrte Nelly der Kopf von all den Namen und Träumen, Hobbys, Lieblingsfarben und dergleichen. Lediglich vier Namen hatte Nelly behalten können: Leander, rechts von ihm saß Till, und der Junge, der links von Leander saß und Nelly wie einer von diesen Halbstarken, die bereits in der sechsten Klasse mit dem Rauchen begannen, vorkam, hieß Jack und das extrem dünne Mädchen, das vorhin so hektisch auf ihrem Smartphone herumgetippt hatte, hieß Yasmina. Die restliche halbe Stunde redete Lee ununterbrochen. Obwohl Nelly versuchte ihren Worten zu folgen, war alles was Lee sagte kurze Zeit später wieder vergessen.

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