Sechzehntes Kapitel
"So. Was habt ihr denn mitgebracht? Möchte jemand anfangen, vorzustellen, was er dabei hat?"
Zögernd streckten ein paar Gruppenmitglieder ihre Hände in die Luft.
"Ich möchte, dass ihr alles, was die anderen vortragen auf euch wirken lasst, aber ich will kein Wort, kein Kommentar hören. Verstanden?"
Alle nickten.
Lee erteilte Lorent das Wort.
"Was hast du dabei?" - "Einen Text." - "Warum hat er eine große Bedeutung für dich?" - "Er beschreibt meine Gefühle während und nach der Geiselnahme durch den Amokläufer an unserer Schule." - "Gut. Bitte lies ihn vor."Alles beginnt mit dem Schuss. Ich schreie als die Kugel meinen Arm zerfetzt und sinke zu Boden. Es tut so weh, dass ich mich nicht mehr bewegen kann.
Ich bemerke wie sich jemand neben mir niederlässt.
Ich habe keine Kraft mehr. Soll mich der Typ doch erschießen.
Jemand schiebt meinen Ärmel über der Wunde hoch. Ich mache jetzt doch die Augen auf. Emma.
Meine Augen fallen wieder zu.
"Lorent halte durch. Ich rufe einen Krankenwagen." Ich merke, wie sie sich bewegt. "Ja, Hallo. Kommen Sie schnell zum Karl-Friedrich-Gymnasium. Hier ist ein Amokläufer. Ja, es ist eine Schussverletzung. Ich glaube ein Streifschuss, mein Mitschüler verliert immer mehr Blut. Nein, ich kann keinen Druckverband anlegen. Er liegt im Foyer der Schule. Roonstraße 4 ist die Adresse." Sie muss sich in Sicherheit bringen. Also öffne ich meine Augen wieder. "Geh weg. Versteck dich." Ich schaue sie eindringlich an. "Nein. Ich bleibe. Und du musst wach bleiben. Lorent, rede mit mir." Ich spüre, dass immer mehr Blut aus der Wunde läuft. Ich sehe Emma etwas in meiner Tasche suchen. Sie nimmt meinen Schal raus, kommt wieder und schiebt dann vorsichtig meinen Ärmel hoch. "Ahhh...", stöhne ich. Meine Lider flattern, dann fallen sie wieder zu. Ich halte diese Schmerzen nicht mehr aus. Emma wickelt den Schal um meinen Arm und verknotet die Enden miteinander. Dann setzt sie sich neben mich. Ihr muss doch klar sein, dass wir hier völlig ungeschützt sind. Wenn der Amokläufer zurück kommt, haben wir keine Chance. Ich schließe die Augen."Aufstehen." sagt eine herrische Stimme. Ich öffne die Augen. Ich starre in die Mündung einer Pistole.
Der Mann hinter der Pistole hat eine schwarze Strumpfmaske auf. "Los steht auf!", befiehlt er wieder. "Bitte.", sagt Emma."Lassen Sie ihn in Ruhe. Er ist verletzt. Es ist mir egal, was Sie mir antun, aber Sie dürfen ihm nichts antun." Erst jetzt scheint der Amokläufer das Blut auf meinem T-Shirt wahrzunehmen. "Shit!", ist alles, was er dazu sagt. "Beide aufstehen.", meint er dann barsch. Emma erhebt sich, auch ich stehe langsam auf. Ich habe noch nie so große Schmerzen gehabt. "Ihr kommt mit mir. Ich werde für euch wohl ein hübsches Lösegeld verlangen." Was ist das denn für ein Amokläufer? Jetzt höre ich leise Sirenen. Der Krankenwagen. Er kommt zu spät. "Scheiße! Wer hat nur die Bullen gerufen?" - "Das ist ein Krankenwagen. Für ihn. Ich habe ihn gerufen.", sagt Emma trotzig. Ich weiß nicht woher sie den Mut nimmt, einem Mann, der eine Pistole auf sie richtet, mit Trotz zu begegnen. "Da sind auch Bullen dabei. Das hört man doch!" Emma schüttelt nur den Kopf. "Komm her zu mir. Ich werde dir jetzt die Pistole an den Kopf halten. Wenn du oder dein Freund hier keine Dummheiten macht, passiert dir nichts." Sie nickt stumm. Er drückt ihr die Pistole an den Kopf und legt mir eine Hand auf die gesunde Schulter. So gehen wir rückwärts Richtung Treppenhaus. Vier Polizisten kommen durch die Tür. Als sie uns sehen, reißen sie erschrocken die Augen auf und bleiben stehen. "Zurück!", knurrt der Amokläufer. Sie weichen zurück. Nur ein etwas älterer Polizist bleibt stehen und sagt: "Lassen Sie wenigstens den Jungen gehen. Er ist verletzt und braucht medizinische Versorgung." - "Die bekommt er auch.", ist die Antwort. Er läuft weiter zurück, bis zur Treppe.
"Verlasst das Gebäude!", raunzt er die Polizisten an. Sie verlassen, langsam rückwärts gehend die Schule, tun brav, was sie sollen. "So. Wir gehen nach oben, in ein Zimmer, von dem aus ich die Straße im Auge behalten kann", teilt er uns mit.Es ist seltsam still in der Schule. Als stünde sie leer. Dabei versteckt sich vermutlich hinter jeder Zimmertür eine komplette Schulklasse.
Wir verschanzen uns schließlich in einem Zimmer im ersten Stock, der Mann mit der Strumpfmaske befiehlt uns, uns in eine Ecke zu setzen und die Klappe zu halten. Dann greift er zu seinem Handy und beginnt zu telefonieren. Er redet leise, dass man nicht verstehen kann, was er sagt.
Emma will nach meiner Wunde sehen, doch ich entziehe ihr meinen Arm.
Der Amokläufer, wobei man ihn nicht wirklich so nennen kann, schließlich hat er niemanden er-, lediglich einen angeschossen, beendet sein Telefonat und kommt zu uns rüber. "Eure Telefone!", raunzt er, die Pistole auf uns gehalten. Emma zieht ihr Handy aus der Tasche und hält es ihm hin. "Auf den Boden legen und rüberschieben." Sie legt es also auf den Boden und stößt es zu dem Mann. "Du auch!" Er meint mich. Aber ich kann nicht. Meine Augen sind geschlossen. "Lorent. Dein Handy.", versuche Emma es. "Hast du es dabei?" Ich nicke träge. "In deiner Tasche?" Erneut ein langsames Nicken meinerseits. "Gibst du es mir?" Ich versuche den gesunden Arm zu heben, doch lasse es gleich wieder bleiben. "Ich kann mich nicht bewegen.", flüstere ich leise. Meine Augen sind weiterhin geschlossen. Plötzlich greift sie in meine Hosentasche. Ich höre, wie sie ihm das Handy ebenfalls zustößt. Es schrammt über den Boden. "Er muss medizinisch versorgt werden.", fordert sie wieder. "Ich weiß.", knurrt der Amokläufer. "Was denkst du, warum ich telefoniert habe? Ein Freund wird kommen und ihn verarzten." Eine kurze Pause. "Ok. Geh weg von ihm. Ich werde dich fesseln. Wenn du Anstalten machst, wegzulaufen, erschießen ich ihn oder dich. Verstanden?" Ich habe Angst. Furchtbare Angst. Was, wenn ich hier sterbe? Was wenn Emma hier stirbt? Was wenn wir beide sterben? Emma hat mir nur helfen wollen. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ihr etwas passiert. Aber ich versuche die Angst so weit als möglich zur Seite zu schieben. "Leg dich auf den Boden, die Hände nach vorn gestreckt.", höre ich den Amokläufer sagen. Ich öffne meine Augen einen Spalt breit. Er fischt einen Kabelbinder aus seiner Jackentasche und fesselt ihre Hände ziemlich fest. Das wiederholt er bei ihren Füßen. "Bleib hier.", weist er sie an. Sie kann sich aber sowieso kaum bewegen. Der Amokläufer fesselt meine Beine aneinander, die Hände lässt er ungebunden. Er läuft erneut zu Emma und reißt sie unsanft hoch, aber sie verzieht keine Miene. Mit kleinen Schritten kehrt sie zu mir zurück, setzt sich neben mich und lehnt sich an die Wand. Der Amokläufer läuft zur gegenüberliegenden Wand und setzt sich dort hin, die Pistole locker in der Hand. "Ich habe Angst.", wimmere ich. "Ich will nicht sterben." Emma sieht zu mir. Ich kann einfach nicht mehr. Mein Gesicht ist tränenüberströmt. Vorsichtig legt Emma ihre Hand auf meinen unverletzten Arm. "Wir werden nicht sterben. Wir kommen hier wieder raus." Wie kann sie sich sicher sein, dass wir hier wieder rauskommen. "Was wenn er nochmal auf mich schießt? Was wenn ich verblute?" Ich bezweifle, dass der Amokläufer einfach nur so erneut auf mich schießen würde. Aber an der zweiten Befürchtung konnte durchaus etwas Wahres dran sein. Mein Schal, den sie mir umgebunden hat ist bereits blutdurchtränkt. Wir sitzen schweigend, Emma und ich auf der einen, der Amokläufer auf der anderen Seite des Zimmers.
Meine Augen fallen zu.
Ein Handy zerreißt jäh die Stille. Der Amokläufer nimmt ab. "Ja? Sergej? Ja, ich kann die Straße sehen." Er steht auf und scheint zum Fenster zu gehen. "Ja. Ja, ich sehe dich. Komm rein." Ich kriege meine Augen nicht mehr auf. Höre jemanden zur Tür gehen. "Aiden, Aiden. Was machst du hier nur für eine Scheiße?", fragt eine Stimme kopfschüttelnd. "Ich brauche Geld.", antwortet der Amokläufer, der Aiden heißt und kratzt sich am Kopf. "Aber deswegen rennt man doch nicht mit Strumpfmaske und Pistole in einer Schule rum und schießt auf einen Jungen.", meint der Fremde, Sergej. Er läuft zu mir und hockt sich vor mich hin. Aiden geht auf die andere Seite des Zimmers. Ich höre alles, aber meine Augen bleiben geschlossen. "Wie heißt du?", fragt Sergej mich. "Kannst du mich hören?"
Ich antworte nicht, drücke aber Emmas Hand.
"Er heißt Lorent und er kann Sie hören. Er will nur nicht sprechen.", teilt sie ihm mit. "Gut. Ich werde dir jetzt Schmerzmittel geben, aber es dauert zu lange, bis deren Wirkung einsetzt. Ich muss deine Schulter untersuchen, während du noch nicht betäubt bist." Noch mehr Tränen schießen aus meinen Augen.
Sergej drückt ein paar Tabletten in meinen Mund. Dann setzt er eine Flasche an meine Lippen. "Hört zu." Sergej redet leise und eindringlich. "Ich will euch helfen. Vertraut mir. Ich kenne Aiden. Er ist nicht der Typ Mensch, der einfach Kinder entführt. Das Ganze war sicherlich eine Kurzschlussaktion. Ich werde versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen." - "Was flüsterst du da?", fragt Aiden laut. "Ich rede mit ihm, um ihn abzulenken, schließlich muss ich ihm eine Kugel aus dem Arm fischen.", sagt Sergej, so locker als hätte Aiden nicht eine Pistole auf ihn gerichtet, dann wendet er sich wieder mir zu. "Das könnte gleich sehr schmerzhaft werden. Es tut mir leid, aber ich muss die Kugel erst herausbekommen, bevor ich die Wunde nähen kann." Ich bewege die Lippen. "Emma.", flüstere ich leise. "Ja. Ich bin hier. Keine Angst. Es wird wieder. Es wird alles wieder gut." Sie drückt meine gesunde Hand. Ich klammere mich an sie wie ein kleines Kind. Sergej entknotet den Schal und nimmt ihn von der Wunde. "Mädchen, hilf mir.", fordert er Emma auf. "Wie denn? Was soll ich tun?" - "Rede mit ihm, zwinge ihn dazu, wach zu bleiben. Lenke ihn ab." Ich blinzele kurz. Sergej nimmt ein Messer und ein Tuch in die Hand. "Lorent." Emma drückt meine Hand. Ich erwidere den Druck. Dann bohrt sich ein Messer in meinen Arm. Mein Schrei dringt mir selbst durch Mark und Knochen.
Ich quetsche ihre Hand zusammen. Meine Lider flattern.
Sergej bohrt das Messer in meinen Oberarm. "Lorent. Lorent. Bleib hier. Bleib bei mir." Ihre Worte können mich nicht halten. Alles verschwimmt vor meinen Augen. Ich lasse Emmas Hand los. "Ah, da ist die Kugel. Er macht das sehr gut. Jetzt muss ich die Wunde noch nähen. Meinst du er hält durch?", fragt Sergej. Ich höre alles wie durch Watte. "Ich weiß es nicht. Er... seine Lider flattern dauernd." - "Küss ihn." - "Was?" - "Ein Kuss lässt viele Emotionen aufkommen. Das könnte ihn sehr gut ablenken." Sergej sticht mit der Nadel durch meine Haut. Ich schreie erneut.
Dann liegen Emmas Lippen plötzlich auf meinen. Und alles andere ist plötzlich unwichtig. Ich erwidere den Kuss. "So, das war's.", teilt mir Sergej mit. Schnell löst Emma sich von meinen Lippen.
Ich öffne meine Augen, starre sie an. Sergej ist gerade dabei meinen Arm zu verbinden. "Wie lange dauert das denn noch?", will Aiden wissen. "Ist gerade fertig." - "Wurde aber auch Zeit. Geh weg von den Kindern.", weist er den Arzt an. Sergej erhebt sich und will zu Aiden gehen, doch dieser richtet die Pistole auf ihn. "Nein. Geh in die Ecke." Sergej hält beschwichtigend die Arme in die Höhe, hält aber weiter auf Aiden zu. "Ich bin dein Freund, Aiden, das weißt du doch. Nimm die Waffe runter. Bitte." - "Nein.", knurrt Aiden und umklammert die Waffe fester. Aber seine Arme zittern. "Sergej Geh nicht weiter. Ich schieße sonst."
Plötzlich geht alles ganz schnell. Sergej geht noch einen Schritt weiter, duckt sich dann schnell weg, während Aiden schießt.
Die Kugel verfehlt Sergej nur knapp und schlägt in die Wand ein. Ein kurzer erstickter Schrei kommt aus Emmas Kehle. Dann ist Sergej bei Aiden angelangt, schlägt ihm die Waffe aus der Hand, bringt Aiden zu Fall. "Kinder, lauft weg!" Ich versuche mich aufzurichten, doch dank Schmerztabletten knicken meine Beine einfach weg.
Zudem sind unsere Beine mit Kabelbinder gefesselt. Emma nimmt das Messer, mit dem ich operiert wurde und schneidet die Kabelbinder um meine Beine auf. Dann schneidet sie die um ihre Beine auf. Sie will das Messer zur Seite werfen, doch nehme es ihr ab und schneide auch noch den Kabelbinder an ihren Handgelenken auf. "Jetzt beeilt euch doch!", schreit Sergej. "Los."
Emma ergreift meine Hand und wir rennen so schnell als möglich, die Treppe runter. Das heißt, eigentlich laufen wir lediglich, denn ich kann die kleinste Erschütterung nicht ertragen. Wir haben schon die Hälfte der Treppe geschafft als ein Schuss und ein Schrei zu uns durchdringen. Sergej. "Lorent. Ich renne und hole die Polizisten rein. Lauf du so schnell du kannst." Sie lässt meine Hand los und rennt aus dem Gebäude.

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MeShg
Teen Fiction"Ich denke, es wird dir guttun.", sagte die sanftmütige Frau mit rotbraunen Haaren gleichsam gutmütig und auch mit einer gewissen Strenge zu ihr. Na sicher wird es mir guttun, dachte sich Nelly. Wem tut es nicht gut in einem Haufen Problemkindern zu...