Kapitel 6

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Sechstes Kapitel

"Leander. Ich bin satt. Wirklich." Nachdrücklich nickte Nelly mit dem Kopf. "Und ich mag deshalb auch kein Eis." - "Och, komm schon. Nur ein kleines Eis. Es ist unhöflich, ein Geschenk abzulehnen." Nelly schüttelte den Kopf. "Du bist unmöglich, weißt du das?", lachte sie. "Also gut. Ich nehme ein kleines Eis." - "Ja!" Leander hob die Hand und sofort eilte Johann herbei. "Haben Sie noch einen Wunsch?" - "Ja. Die Dame hätte gerne noch ein Eis." - "Aber nur ein kleines.", warf Nelly ein. "Sehr wohl.", antwortete der Kellner. "Welche Sorte darf es denn sein?" - "Erdbeer, bitte." - "Und was darf ich Ihnen bringen?", fragte er Leander. "Danke, aber... also gut. Eine Kugel Schokoladeneis bitte." Johann nickte erneut und lief, um das Eis zu holen.
Keine zwei Minuten später hatten Nelly und Leander das Eis vor sich stehen. "Deine Lieblingssorte?", fragte Nelly Leander. "Ja. Und deine ist Erdbeer?" - "Mhm. Danke für das Eis." - "Darf ich probieren?", fragte Leander. "Klar." Sie schob ihm den Teller zu. "Mmm. Gut. Aber nicht mein Geschmack. Nelly entging nicht, dass er irgendjemanden hinter ihr herbeiwinkte. "Das ist für dich. Wünsche dir ein Lied." Nelly starrte den an sie herangetretenen Violinist entsetzt an. "Welches Lied wollen Sie hören?", drängte sie dieser. Ein weiterer Mann, offensichtlich Sänger stellte sich neben den mit der Geige. "Es gibt tatsächlich ein Lied, das ich gerne höre. Aber es ist etwas ungewöhnlich." Der Geiger nickte Nelly ermutigend zu. "Musik nur wenn sie laut ist. Von Herbert Grönemeyer." Ein breites Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. "Dieses Lied ist in der Tat außergewöhnlich. Aber für eine so hübsche junge Dame spielen wir das gern." - "Ach, ihr könnt das Lied echt spielen?" Nelly hatte fest damit gerechnet, dass die Musiker ihren Wunsch ablehnen würden und Nelly so um das Lied herumkommen würde. "Naja.", meinte der Geiger. "Ich kann es nicht spielen, ich habe das falsche Instrument dafür, aber wenn Sie uns zu unserem Schlagzeuger begleiten würden." Leander schüttelte den Kopf. "Nein, tut mir leid. Das geht nicht." - "Warum nicht?" Leanders Ablehnung hatte Nelly dazu gebracht, das Lied jetzt doch unbedingt gespielt bekommen wollte.
Als Leander den Glanz in Nellys Augen sah, wurde er von unterschiedlichen Gefühlen zerrissen:
Er sah, dass Nelly sich freute, dass sie das Lied unbedingt hören wollte und er wollte ihr da auch nicht reinreden.
Allerdings konnte er nicht einfach aufstehen und bis zu dem in der Ecke stehenden Schlagzeug gehen. Er müsste erst seinen Rollstuhl holen lassen und müsste Nelly dann alles erklären.
Das konnte er nicht.
Er war noch nicht bereit.
"Geh doch allein. Ich bezahle hier währenddessen die Rechnung und höre von hier aus zu, in Ordnung?", schlug er vor.
Nelly blieb kurz unschlüssig sitzen, sie war sich nicht sicher, ob sie versuchen sollte, Leander dazu zu überreden, doch mitzukommen, ließ es dann aber bleiben. "Ich komme gerne mit.", sagte sie zu dem Geiger und Sänger. Dann sprang sie auf und folgte den beiden Männer zum Schlagzeug. Ihr wurde direkt vor der Band ein Stuhl hingestellt. Der Geiger bat die Gäste um Aufmerksamkeit. "Verehrte Gäste, entschuldigen Sie bitte die Unterbrechung, aber ich habe gerade einen außergewöhnlichen Liedwunsch von dieser jungen, wunderschönen", Nelly senkte für einen äußerst kurzen Augenblick verlegen den Blick, "Dame erhalten, der etwas lauter ist. Ich wollte Sie nur kurz vorwarnen, dass Sie nicht gleich vom Hocker fallen, wenn unser begabter Schlagzeuger hier", er deutete auf den Mann hinter dem Schlagzeug, "zu spielen anfängt." Nelly warf einen kurzen Blick hinter sich. Einige Leute waren aufgestanden und neugierig nähergetreten. Leander saß immer noch am Tisch und lächelte ihr zu.
Er wirkte einsam und verloren, Nelly wollte aufspringen und ihn holen, aber er schüttelte leicht den Kopf, gerade so als habe er ihre Gedanken gelesen.
Dann sah sie wieder nach vorn. "Meine Damen und Herren: Musik nur wenn sie laut ist!", kündigte der Sänger an. Nelly konnte sehen, dass der Schlagzeuger zu spielen anfing, sie konnte sehen, wie die Leute sich zur Musik zu bewegen anfingen.
Nelly hatte mit vielem berechnet, sie hatte gewusst, dass sie weinen würde, aber niemals hätte sie sich so starke Emotionen ausgemalt.
Sie hatte gedacht, sie hätte sich im Griff.
Als der Sänger die erste Strophe sang, schaffte Nelly es noch, den Kloß in ihrem Hals zu ignorieren, aber dieser schien anzuschwellen, mit jedem Wort, das sie von den Lippen des Sängers las,mit jedem Schlag, der von dem Schlagzeug ausging, durch den Boden lief, und von ihren Füßen aufgenommen ihren Körper erbeben ließ.
Es war ihr Lied.
Der Text schien eigens für sie geschrieben.
Jetzt wurde das Lied eigens für sie gesungen.
Noch während des ersten Refains verschwamm ihr Blick, verschleierten Tränen ihre Sicht.
Sie sank auf ihrem Stuhl zusammen und hielt sich die Hände vor ihr Gesicht.
Sie konnte dem Sänger nicht mehr von den Lippen lesen, doch das Lied, die Worte liefen in ihrem Kopf von alleine passend zu den Erschütterungen des Schlagzeugs weiter.
Sie kannte jede einzelne Zeile.
Zu oft hatte sie seit Beginn ihres Hörverlustprozesses gehört.

Sie sitzt den ganzen Tag auf ihrer Fensterbank,
lässt ihre Beine baumeln zur Musik.
Der Lärm aus ihrem Zimmer macht alle Nachbarn krank.
Sie ist beseelt lächelt vergnügt.
Sie weiß nicht, dass der Schnee lautlos auf die Erde fällt,
merkt nichts vom Klopfen an der Wand.

Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist. Das ist alles was sie hört.
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, wenn sie ihr in den Magen fährt.
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, wenn der Boden unter den Füßen bebt.
Dann vergisst sie, dass sie taub ist.

Der Mann ihrer Träume muss ein Bassmann sein,
das Kitzeln im Bauch macht sie verrückt.
Ihr Mund scheint vor lauter Glück still zu schrein,
ihr Blick ist der Welt entrückt.
Ihre Hände wissen nicht mit wem sie reden sollen,
es ist niemand da der mit ihr spricht.

Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist. Das ist alles was sie hört.
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, wenn sie ihr in den Magen fährt.
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, wenn der Boden unter den Füßen bebt.
Dann vergisst sie, dass sie taub ist.

Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist. Das ist alles was sie hört.
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, wenn sie ihr in den Magen fährt.
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, wenn der Boden unter den Füßen bebt.
Dann vergisst sie, dass sie taub ist.

Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist. Das ist alles was sie hört.
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, wenn sie ihr in den Magen fährt.
Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, wenn der Boden unter den Füßen bebt.
Dann vergisst sie, dass sie taub ist.

Nelly spürte eine Hand auf der Schulter. Langsam schaute sie durch den Tränenschleier auf. Es war Johann. "Kommen Sie. Ich bringe Sie hinaus. Herr Leander wartet schon." Benommen nickte Nelly und folgte Johann durch die Menge der sie mit bohrenden Blicken bedenkenden Menschen nach draußen.

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