Fünftes Kapitel
Schon von weitem sah Nelly einen Mann in Anzug vor dem Restaurant stehen. Beim Näherkommen bemerkte sie, dass es nicht Leander, sondern ein Portier war. Enttäuscht sah Nelly sich um. Leander war nicht zu sehen. "Miss Dunkins?", fragte der Portier sie. "Ja?" Verwundert folgte Nelly dem Portier auf einen Wink hin in das Restaurant. Ihre Blicke huschten durch den Raum. Gedämmtes Licht, auf den Tischen Kerzen. Sie sah in die Ecken an der Decke. Keine Lautsprecher, dafür erblickte sie eine Gruppe Musiker. Streicher. Also wurde Musik gespielt.
Nelly beeilte sich, den durch ihr kurzes Stehenbleiben beinahe zwischen den Tischen verschwundenen Portier einzuholen.
Und endlich sah sie auch Leander. Er saß allein an einem Tisch und spielte gedankenverloren mit seinem Besteck. Nelly fühlte sich schlecht. War sie etwa zu spät, weil er schon hinein gegangen war? Sie warf einen Blick auf die Uhr. Nein, sie war rechtzeitig. Plötzlich hob Leander den Kopf und sah Nelly direkt in die Augen. "Es tut mir leid. Ich war schon früher da. Ich hoffe, es ist nicht schlimm, dass ich schon vorgegangen bin?" - "Nein, nein.", beeilte sich Nelly zu sagen und fragte sich insgeheim, ob sie vielleicht die falsche Uhrzeit im Kopf gehabt hatte.
Der Portier, der immer noch neben ihr stand, nahm ihr den Mantel ab und rückte Nelly sogar den Stuhl zurecht als sie sich setzen wollte. Nellys Verdacht, ob eines sehr teuren Restaurants in das Leander sie offenbar eingeladen hatte, verstärkte sich als ein Kellner die Speisekarten brachte und sie einen Blick auf die Preise warf.
Unbehaglich begann Nelly auf ihrem Stuhl hin- und herzurutschen.
Dass Leander sie, wie sie nach einiger Zeit bemerkte, belustigt ansah, ließ sie zwar das nervöse Herumrutschen bleiben lassen, trug aber nicht zu ihrer Beruhigung bei.
"Was darf es denn zu trinken sein?" Ein Kellner, glücklicherweise stand er Nelly zugewandt, sodass sie hatte sehen können, was er sagte, stand freundlich lächelnd neben ihrem Tisch. "Wir nehmen einen Wein Ihrer Empfehlung, Johann." - "Sehr wohl, Herr Leander, ganz wie Sie wünschen." Nelly hatte Mühe, dem Gespräch zu folgen. Leanders Lippenbewegungen waren klar und deutlich, aber der Kellner sprach schnell und die Worte schienen fließend ineinenander überzugehen. Dazu kam noch dieser hochgestochene Ton.
Johann nickte beiden noch einmal freundlich zu und entschwand.
"Erzähl' mir etwas von dir.", forderte Leander sie auf. "Da gibt es nichts groß zu erzählen. Ich bin sehr still. Eher ein Einzelgänger. Ein Gedankenmensch." Nelly schwieg. "Aber wenn du so ein >Gedankenmensch< bist, dann musst du doch viel zu erzählen haben, oder? Du könntest mir von deinen Gedanken erzählen und ich erzähle dir von meinen." - "Ich rede nicht sehr gerne, weil..." Nelly stockte. "Ja?", hakte Leander nach. "Ich verspreche mich oft oder rede zu leise." Nelly verstummte und beide hüllten sich in Schweigen.
Glücklicherweise kam in diesem Moment Johann mit einer Flasche Wein wieder. Er schenkte beiden ein und stellte die Flasche auf dem Tisch ab. Dann entfernte er sich wieder.
"Darf ich erfahren, warum du in der Gruppe bist?" Eines musste Nelly ihm lassen: Leander machte keinen Hehl aus seiner Neugierde. "Äh, nein. Dunkle Geheimnisse verrate ich grundsätzlich erst beim dritten Date.“, versuchte Nelly es mit einer lockeren Abweisung. Ihre Taubheit wollte sie dann doch lieber noch ein wenig für sich behalten. "Ach, du bist doch recht schlagfertig dafür dass du so still zu sein meinst. Und gut zu wissen, dass das hier ein Date ist." Er grinste sie süffisant an. "Dann brauche ich dich nach heute ja nur noch zweimal zum Essen einladen." Es war anstrengend für Nelly die ganze Zeit über aufmerksam auf Leanders Lippen zu schauen, um zu verstehen was er sagte. "Selbstverständlich bin ich schlagfertig.", erklärte sie entrüstet. Auf den zweiten Teil seiner Aussage ging sie absichtlich nicht ein. "Und warum bist du in der Gruppe?", versuchte sie von sich selbst abzulenken. "Hey." Abwehrend hob Leander die Hände. "Das erfährst du bei unserem dritten Treffen." - "Wer sagt denn, dass ich dich nochmal sehen will, geschweige denn du mich. Warum wolltest du dich überhaupt mit mir treffen? Wir kennen uns doch kaum.", schweifte Nelly ab. "Eben darum.", meinte Leander. "Jeden Mittwoch starrst du mich eine Stunde lang an und ich weiß nichts über dich als deinen Namen. Außerdem beobachtest du alles um dich herum genauso aufmerksam wie ich es tue."
Nelly biss sich auf die Lippe. Ja, dachte sie, das tue ich, aber nur, weil mir meine Taubheit keine andere Wahl lässt.
"Ich beobachte dich doch nur, weil du mich immerzu anstarrst.", meinte Nelly. Wieder wurde ihr Gespräch vom Kellner unterbrochen. "Was darf es denn sein?", fragte er, geschäftig den Block in der Hand haltend. "Hmm..." Nelly schaute hilfesuchend zu Leander, der sich dem Kellner zuwandte und eine Bestellung aufgab. Der Kellner nickte Nelly noch einmal freundlich zu, machte auf den Absätzen kehrt und lief zur Küche. "Ich hoffe es ist in Ordnung, dass ich für dich mitbestellt habe?", wollte Leander wissen. Nelly nickte langsam. "Musstest du mich ausgerechnet in einen so teueren Schuppen einladen?", platzte es aus ihr heraus. Leander zog belustigt eine Augenbraue in die Höhe. "Wenn schon, denn schon.", meinte er schmunzelnd.
"Um aber auf deinen Aussage von vorhin zurückzukommen", hob er an, "ja, du hast recht. Eigentlich schaue ich dich die ganze Zeit an, und nicht umgekehrt. Aber das tue ich nur, weil du irgendwie besonders bist. Ich will dich kennelernen, mehr über dich wissen." Nellys Wangen röteten sich leicht vor Verlegenheit. Sie wollte nicht, dass er noch mehr sagte und so beeilte sie sich, ihm zuvor zu kommen. "Und, was willst du wissen?" - "Alles.", meinte Leander vage. "Na, wenn du das so sagst, fällt mir gewiss nichts ein. Stell' mir eine Frage, und ich entscheide dann, ob ich sie beantworte." - "Gut.", willigte Leander ein. "Lieblingsfarbe?" - "Blau.", antwortete Nelly, wie aus der Pistole geschossen. "Gelb", beantwortete Leander seine eigene Frage. Nelly nickte. "Jetzt musst du eine Frage stellen.", meinte Leander.
Nelly nahm ihr Weinglas, hob es an. Leander tat es ihr nach, dann ließen sie die Gläser aneinander klirren. "Ein wahrhaft wunderbares Geräusch, findest du nicht auch?", fragte Leander unbedacht. Er konnte ja auch gar nicht wissen, welche Gefühle in Nelly dadurch ausgelöst wurden. "Ja.", hauchte Nelly. Tapfer lächelte sie weiter, versuchte die aufkommenden Tränen wegzublinzeln. "Was ist?", fragte Leander besorgt. "Nichts, schon gut.". Skeptisch musterte Leander sie. "Habe ich was Falsches gesagt?", erkundigte er sich zögerlich. "Nein, nein.". Nelly hatte ihre Tränen erfolgreich zurückgedrängt und stellte jetzt schnell ihre Frage, damit Leander sie nicht weiter so ansah. "Warum willst du Fußballprofi werden?" - "Naja.", murmelte Leander. Diesmal hatte Nelly versehentlich exakt seinen wunden Punkt getroffen. "Wenn man mit vier Jahren Fußballspielen anfängt, riesigen Spaß daran hat, der Beste im Team ist und damit auch noch Geld verdienen könnte, gibt es dann überhaupt etwas, das gegen diesen Berufswunsch spricht?" Nelly zuckte mit den Schultern. Für sie war Laufen schon eine Herausforderung. Gleichgewicht halten, an Straßen auf Autos achten. Vieles, was in anderer Leute Leben als selbstverständliche Nebensächlichkeit hingenommen wurde, war in ihrem eine Herausforderung. "Wenn man sich einen Traum erfüllen kann, gibt es nichts, was dagegen spricht, genau das zu tun.", beantwortete sie Leanders Frage vage.
Johann kam, zwei Teller auf einem Arm balancierend, an den Tisch. "Die Dame." Er deutete eine kleine Verbeugung an und stellte einen der Teller vor Nelly ab. "Herr Leander." Er nickte Leander zu und stellte den zweiten Teller vor ihm ab. Nelly fragte sich im Stillen, wieso Johann Leander >Herr Leander< nannte. "Und? Wirst du das essen? Oder bist du Vegetarierin?" Leander deutete auf Nellys Teller. "Nein. Ich bin keine Vegetarierin. Aber danke, dass du fragst, wenn das Fleisch schon vor mir liegt." Leander lächelte. "Besser spät als nie." - "Bringst du immer solche Sprüche? Wenn schon denn schon, besser spät als nie." Leander schüttelte immer noch lächelnd den Kopf. "Ich glaube, ja. Du wirst dich daran gewöhnen müssen." - "Na, dass müsste machbar sein." Nelly versank in Leanders Augen, in seinem intensiven Blick. Es entwickelte sich eines ihrer Blickduelle. Doch bevor Nelly hatte gewinnen oder verlieren können, meinte Leander: "Iss, sonst wird dein Essen kalt." Und dann wandte er sich seinem Essen zu. Fast schon enttäuscht nahm Nelly das Besteck in die Hand und begann, das Steak zu schneiden.
Nun war sie froh, dass Paula heute Mittag statt des üblichen >wie-komme-ich-draußen-zurecht-Trainings< einen >wie-halte-ich-mein-Besteck-und-wie-muss-ich-mich-bei-feinen-Leuten-verhalten-Kurs< eingeschoben hatte, nur für den Fall, dass es ein nobles Restaurant sein sollte.
Und wie nobel es war!
Ohne Paulas Kurs hätte sie sich jetzt peinlichst blamiert.
Glücklicherweise schwieg Leander während des Essens und so legte sich Nellys Anspannung nach einiger Zeit.

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MeShg
Teen Fiction"Ich denke, es wird dir guttun.", sagte die sanftmütige Frau mit rotbraunen Haaren gleichsam gutmütig und auch mit einer gewissen Strenge zu ihr. Na sicher wird es mir guttun, dachte sich Nelly. Wem tut es nicht gut in einem Haufen Problemkindern zu...