Kapitel 4

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Viertes Kapitel

"Und, wenn er... einfach auftauchen würde? Würdest du dann mit ihm reden?", fragte Nelly Regina am nächsten Mittwoch. "Ich wüsste nicht, warum er das tun sollte, aber angenommen, Niklas stünde vor meiner Tür... keine Ahnung. Ich denke, ich würde zumindest versuchen, mich mit ihm auszusprechen. Für Myrla. Weißt du, wenn er schon mal da wäre, hätte ich vermutlich kein Problem damit, mit ihm zu reden, ich kann mich nur nicht aufraffen, zu ihm zu gehen." Zufrieden nickte Nelly. Eine bessere Einwilligung für ihren Plan würde Regina ihr nicht geben. Glücklich lief sie zu Paula zurück. "Und?", fragte diese sofort. "Ja, ich kann den Plan durchziehen." Skeptisch musterte sie. "Bist du...?" - "Lass uns zuhause darüber reden, ok?" Nelly wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern sah schnell zu Leander. Und wieder stellte sie sich im Stillen die Fragen, die sie sich jedes Mal stellte, wenn sie einander ansahen:
Warum mustert er mich? Will er etwas von mir? - wobei, was sollte er von mir wollen? Wieso ist er in der Selbsthilfegruppe? Ihm fehlt doch nichts? - aber, dass ihm etwas fehlt, muss man ja nicht unbedingt sehen, oder? Werde ich immer nur Blickduelle mit ihm führen? Oder spricht er mich irgendwann an? - erhoffe ich mir das überhaupt?
So oder so ähnlich dachte Nelly jedes Mal, wenn sie in Leanders Augen blickte.
"Okay, schön dass ihr alle da seid." Die Grüppchen beendeten ihre Privatgespräche und wandten sich Lee zu. "Nachdem Regina sich vor zwei Wochen geöffnet hatte, ist die darauffolgende Gruppensitzung ja leider ausgefallen und ihr hattet keine Möglichkeit etwas dazu zu sagen. Ich würde aber gerne wissen, was ihr darüber denkt. Habt ihr Fragen an Regina? Wie fandet ihr, dass sie erzählt hat, warum sie hier ist? Was ging euch durch den Kopf, nachdem sie ihre Geschichte erzählt hatte. Ja, Lorent?" Suchend sah sich Nelly um. Der Junge neben Leander, der auf dem Platz saß, auf dem früher Till gesessen hatte, redete. Nelly hatte keine Ahnung, warum Till auf einmal weg war. Tja und kurz nachdem Till die Selbsthilfegruppe verlassen, war Lorent dazugekommen. "Also: ich fand es unglaublich mutig, dass sie als Erste diesen Schritt gewagt hat. Wirklich herausragend mutig. Aber eine Sache will mir nicht in den Kopf." Lorent richtete seine Worte direkt an Regina. "Wie kann man denn nicht merken, dass man mit jemandem schläft?" Nelly sah zu Regina, die ruhig und gefasst auf ihrem Stuhl saß. "Das frage ich mich auch schon lange. Die ganze Zeit denke ich darüber nach, wie es möglich ist, ob es überhaupt möglich sein kann. Ich weiß nur, dass ich öfters schlafwandle und dass ich in dieser Nacht davon geträumt habe, mit dem Typen zu schlafen. Aber wie gesagt: das Ganze gibt auch mir Rätsel auf."
Verschiedene Leute mischten sich daraufhin ein und begannen eine hitzige Diskussion darüber zu führen, ob es möglich war, mit jemandem zu schlafen, während man schlief. Paula übersetzte die wichtigsten Teile des Gesprächs unter dem Tisch für Nelly in Gebärdensprache.
Schließlich rief Lee alle zur Ordnung. "Bitte, lasst uns etwas ruhiger fortfahren. Es geht hier nicht darum, etwas zu beurteilen, es geht darum, zu akzeptieren. Bitte nehmt Reginas Geschichte nicht so auseinander. Ich bin sicher, ihr würdet euch nicht wohlfühlen, würde eure Vergangenheit so auseinandergenommen und diskutiert werden." Zustimmend nickten einige. "Und vielleicht findet ja noch jemand den Mut sich zu öffnen. Denn dafür versammeln wir uns eigentlich. Auch wenn ihr viel lieber über momentan angesagte Kinofilme und neue Bücher tratscht." Lee nickte. "Ja gerne. Wenn du von dir erzählen möchtest, Yasmina, dann tu das."
Es dauerte einen Moment, bis Nelly Yasmina ausfindig gemacht hatte. Sie saß gleich neben Lorent. Die Magersüchtige. "Man sieht mir ja an, was ich habe. Magersucht. Aber den Grund, warum ich so dünn geworden bin, den will keiner hören. Abwertende Blicke bekomme ich zuhauf, aber kaum einen interessiert der Grund, der Gedanke, der hinter allem steckt." Verächtlich schnaubte Yasmina. Nelly ließ sich von Paula in Gebärden übersetzen, was Yasmina sagte. Denn die Magersüchtige sprach zu schnell und zu undeutlich für Nellys Lippenlesefähigkeiten.
"Da war dieser Typ. Er war anders als andere Typen. Dachte ich. Er war immer da, wenn ich jemanden zum Reden brauchte, er verstand mich, wenn ich mich selbst nicht verstand, er gab mir Halt, wenn ich unterzugehen drohte. Ich habe mich in ihn verliebt. Und irgendwann fragte er mich, ob ich mit ihm zusammensein wolle. Ich habe ja gesagt und gedacht, nun hätte ich das Glück gefunden. Aber er veränderte sich als wir ein Paar waren. Es war eine minimale Veränderung, ab und an ließ er eine kleine Bemerkung fallen, irgendetwas von wegen, dass ich abnehmen solle. Nur ein bisschen. Aber aus dem Bisschen wurde immer mehr und er hörte mit den bissigen Bemerkungen nicht auf. Und weil ich ihn immer noch liebte, hungerte ich mich zu Tode für ihn. Zumindest fast. Erst als ich in eine Klinik für Essgestörte eingeliefert wurde und er sich von mir getrennt hatte, wurde mir klar, dass er ein Idiot und ich viel zu dünn war." Yasmina machte eine Pause und Nelly sah von Paulas Händen auf. Yasmina lächelte ihren Sitznachbarn unsicher an. "Inzwischen habe ich einen neuen Idioten kennengelernt. Im Gegensatz zum vorherigen Modell will er mich nicht zum Abnehmen, sondern zum Zunehmen bewegen.", sprachen Paulas Hände. "Und ich habe auch schon wieder um einige Kilo zugelegt. Man kann zwar immer noch jeden einzelnen Knochen spüren, aber sie stechen nicht mehr ganz so stark hervor." Paulas Hände schwiegen. Nelly sah auf und wie Lorent Yasmina sanft auf die Wange küsste. Irritiert sah Nelly zwischen den beiden hin und her. Waren die beiden ein Paar? Wenn ja, wie lange schon? Den Moment des Schweigens nutzte sie um zu einer Antwort auf ihre Frage, die beiden betreffend, zu kommen. War sie tatsächlich zu unaufmerksam gewesen, um zu bemerken, dass sich zwischen den beiden etwas entwickelt hatte?
Ein Tippen auf den Arm ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. "Lorent.", sagten Paulas Hände.
"... möchte jetzt auch meine Geschichte loswerden. Aber im Vergleich zu dem, was für ein Paket manch andere hier mit sich herumschleppen, ist mein Problem wirklich winzig. Ich wurde von einem Amokläufer an meiner Schule angeschossen und komme damit nicht klar. Und das Mädchen, mit dem ich daraufhin zusammengekommen bin, hat sich kurze Zeit später wieder von mir getrennt. Und der Mann, der uns gerettet hat, ist auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Tja, das war's. Nicht weiter spektakulär." - "Das finde ich nicht." Im Vergleich zu den anderen waren Leanders Lippenbewegungen ein Spaziergang. "Jeder hat mit Problemen zu kämpfen. Und verschiedene Menschen haben verschiedene Probleme. Deshalb ist allerdings noch lange kein Problem mehr oder weniger berechtigt als ein solches betitelt zu werden. So ist das meiner Meinung nach."
Einen Moment lang ließen alle Leanders Worte auf sich wirken.
"Ich mag seine kühle, besonnene Art", sagten Paulas Hände. "Ich mag seine klaren, leicht lesbaren Lippenbewegungen.", antwortete Nelly. Paula nickte Richtung Lee.
"Das war sehr schön gesagt, Leander. Vielen Dank." Sie wandte sich an die Gruppe. "Habt ihr Fragen an die beiden oder wollt irgendetwas sagen?" Allgemeines Kopfschütteln.
"Will sich noch jemand der Gruppe mitteilen? Das kann sehr befreiend sein, wisst ihr?" Nelly sah, dass mehrere bei diesem Klischeesatz die Augen verdrehten. "Okay. Das scheint im Augenblick nicht der Fall zu sein. Ich glaube, dann ist das ein guter Moment, um diese Sitzung abzuschließen. Nehmt mit, was hier besprochen wurde und wir sehen uns nächste Woche.", entließ Lee die Gruppe, fünfzehn Minuten früher als üblich. Nelly zog ihre Jacke über und ging mit Paula zusammen Richtung Tür. Plötzlich hielt Paula sie am Ärmel zurück und drehte sie herum. Sie nickte Richtung der Tische.
Leander schien ihr etwas zuzurufen, beziehungsweise zugerufen zu haben. Fragend blickte Nelly zu Paula. Sie hoffte inständig auf einen Hinweis von Paula, aber auch, dass sie jetzt nicht anfing, in Gebärden zu sprechen. "Na los, Geh schon zu ihm. Ich warte hier." Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, weil unwissend, was sie erwartete, lief Nelly zu Leander. "Hi.", sagte sie unsicher. "Hi." Leander musste zu Nelly aufschauen. "Hättest du Lust, mit mir Essen zu gehen?" Beklommen schluckte Nelly und sah hilfesuchend zu Paula hinüber. Diese nickte ihr nur wenig hilfreich zu. "Äh, ja.", meinte Nelly, völlig überrumpelt von der direkten Frage Leanders. "Gut. Ich... bräuchte noch deine Nummer, damit wir uns verabreden können." - "Hm? Ja, klar." - "Hier." Leander schob ihr seinen Block entgegen und hielt ihr den Stift hin. "Schreib auf." Nelly nahm den Kugelschreiber entgegen. Dabei berührten ihre Finger die von Leander und ein Schauer durchlief sie. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen, notierte ihre Nummer, gab sich Mühe, die neun auch wirklich wie eine neun und nicht wie eine null aussehen zu lassen. "Hier, bitte." Sie legte den Kugelschreiber auf den Block und schob diesen Leander zu. "Bis dann.", meinte sie, drehte sich um und lief zu Paula.
"Was wollte er denn?", wollte Paula wissen als sie draußen waren. "Sich mit mir verabreden. Sieht aus als hätte ich ein Date."

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