Kapitel 8

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Achtes Kapitel

Nelly hätte es nie für möglich gehalten, aber nachdem Regina erzählt hatte, warum sie hier war, hatte sie anscheinend geschafft, was Lee nicht geschafft hatte.
Sie hatte die Übrigen dazu animiert, sich zu öffnen.
Jeden Mittwoch erzählten nun ein bis zwei Leute ihre Geschichte. Leander hatte bisher noch nichts erzählt, Nelly genauso wenig.
Jamina hatte erzählt:
"Ich bin hier, weil ich einen Selbstmordversuch hinter mir habe." Nelly fand seltsam, wie offen Jamina damit umging. "Meine Freundin war geschockt, hat daran gezweifelt, ob ich sie liebe. Ich bin froh, dass sie mir verziehen hat." Jamina versank kurz in Gedanken. "Ich wollte mich umbringen, weil meine beste Freundin sich von mir abgewandt hatte. Ich kenne sie schon seit dem Kindergarten und habe es einfach nicht verkraftet. Vor allem weil der Grund ein riesiges Missverständnis war. Aber ich durfte es ihr nicht sagen. Sonst hätte ich Zoff mit meiner Freundin gehabt."
Nelly wurde nicht wirklich schlau daraus. Am Ende besagter Stunde kamen zwei Jungen und ein Mädchen, die Jamina abholten. Jamina verschränkte ihre mit der Hand des Mädchens.
In der Woche darauf hatte sich der Junge, Steve, geöffnet. Er litt unter Fettsucht und beschrieb das Gefühl, nie genug zu Essen zu bekommen. Aber Nelly hatte es nicht behalten können. Ihre Gedanken und Augen waren bei Leander.
In der gleichen Stunde erzählte auch Jack seine Geschichte. Als er diesmal redete, wirkte er gar nicht so obercool wie sonst immer. Nelly war aufmerksam.
"Ich bin ziemlich früh abgerutscht. Zigaretten und Alkohol waren meine steten Begleiter. Aber bald schon stieg ich auf härtere Drogen um. Ich war meistens zugedröhnt, völlig bekifft. Hatte ich mal nicht genug Heroin war ich leicht reizbar. Ich klaute Geld, wo immer ich es herbekommen konnte, mein Leben war ausgerichtet auf die Drogen, die ich brauchte, auf den nächsten Schuss. Meine Eltern, die ganze Zeit schien es ihnen egal gewesen zu sein, steckten mich eines Tages plötzlich in eine Entzugsklinik. Der Entzug war das Schlimmste. Ich hatte das Gefühl, gleich draufzugehen. Hitze, Kälte, mein Körper zitterte und schwitzte unkontrolliert, es war schrecklich.
Aber nach einiger Zeit war es überstanden. Und ich mache seitdem einen großen Bogen um meine Drogenfreunde." - "Hattest du keinen Rückfall?", wollte Leander wissen. "Naja, wie man es nimmt. Ich rauche und trinke wieder. In Maßen. Es könnte schlimmer sein.", beendete Jack das Thema.
Und wieder eine Woche später erzählte die Weißhäutige ihre Geschichte:
"Ich komme aus einem anderen Land, einem kleinen Dorf irgendwo an der Grenze. Die Regierung achtet nicht darauf, was in den Dörfern am Rand ihres Herrschaftgebiets vor sich geht." Die Weißhäutige machte eine Pause, um sich die Worte zurechtzulegen. Nelly fand sie wunderschön. Die weiße Haut ließ sie zerbrechlicher wirken. Sie sah aus, wie aus einer anderen Welt. "Also haben ein paar wenige die Macht in den Randdörfern an sich gerissen. Und beschlossen, dass alle Weißhäutigen weggesperrt werden müssen. Weil wir angeblich gefährlich sind. Ein Viertel der Stadt wurde also evakuiert, ummauert. Da sollten wir leben, die Weißhäutigen. Ich bin erst sehr spät gefunden und weggesperrt worden. Im Alter von fünf Jahren. An meinem Geburtstag." Die Weißhäutige, Nelly überlegte die ganze Zeit über schon fieberhaft wie sie hieß, blinzelte ein paar Tränen fort.
"In der Gesellschaft der Weißhäutigen wurde ich einer neuen Mutter zugeteilt.
Viele Jahre lebte ich bei ihr. Doch dann kamen die Erinnerungen. Erinnerungen an ein Lied. Ein Lied, das mir meine leibliche Mutter vorgesungen hat.
Zu dieser Zeit brodelte es bereits in unserer Gesellschaft, ein paar Wochen später kam eine erwachsene Sawihetgeusie, also eine Weißhäutige neu zu uns ins Lager. Sie erzählte, dass wir nicht die einzigen wären, dass in benachbarten Dörfern auch Sawihetgeusien lebten.
Das war der Funke, der die Gesellschaft in Brand setzte. Ein Team aus >fähigen Kriegern< sollte ausbrechen und die anderen Dörfer aufsuchen, den Gesellschaften dort zum Ausbruch verhelfen.
Ich gehörte zu den tapferen Kriegern, zu den Auserwählten, weil ich eine, zumindest eine dunkle Vorstellung davon hatte, was mich erwarten würde.
Nun ja, die Kurzfassung:
Wir brachen aus und verteilten uns, einer würde schon durchkommen. Anfangs war mein Wille groß, doch nicht vorhandene Nahrung ließ diesen schnell schrumpfen. Halb tot hat mich eine Frau, eine Deutsche, gefunden und mit hierhergebracht.
Ich will zurück in mein Land, zu meiner Gesellschaft. Aber der Staat hier hat den Prozess noch nicht durch. Ich bin schließlich nicht volljährig und besitze absolut nichts. Und niemand unternimmt etwas." Nelly sah die Hilflosigkeit im Blick der Weißhäutigen.
Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit.
Pflichtgefühl und das Gefühl, versagt zu haben.
Das was die Gruppe von der unscheinbaren und doch so starken Weißhäutigen gehört hatte, brachte alle zum Grübeln. Nelly dachte an die Vergangenheit Deutschlands. Auch hier hatten ein paar wenige die Macht an sich gerissen. Nationalsozialisten. Und hatten entschieden eine bestimmte Bevölkerungsgruppe wegsperren zu müssen. Juden.
Es wurden lange Diskussionen geführt, Pläne geschmiedet und die Ungerechtigkeiten beschrien, die der Weißhäutigen widerfahren waren.
Aber unternommen wurde nichts.
Einige Wochen darauf war alles gesagt und die Nächste erzählte ihre Geschichte.
Merina Gerling.
Merina Gerling trug eine Strumpfmaske auf dem Kopf und Nelly wurde dadurch das Lippenlesen verwehrt.
Paula übersetzte zwar synchron, aber das war nicht vergleichbar.
Schlussendlich wusste Nelly nur, dass Merina etwas Schreckliches passiert war. Sie war vergewaltigt worden. Seitdem ließ sie keinen mehr an sich heran, sondern versuchte sich hinter Strumpfmaske und weiten Klamotten zu verstecken.
Das war im Großen und Ganzen alles, was Nelly über die strumpfmaskentragende Merina erfuhr.

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