Kapitel 28 - Die Wahrheit

106 12 6
                                    

Ich bin eine Frau mit einer Mission. Stark. Unabhängig und Selbstbestimmt.

Das rede ich mir schon seit dem Moment ein, als ich in mein Auto gestiegen und halb blind dagesessen habe. Weil meine Bewusstsein sich der Energie für meine Sinne bemächtigt hatte. Das passiert mir manchmal. Wenn ich zu intensiv fühle oder denke, zieht sich mein Selbst irgendwie mehr in sich zurück um einen inneren Sturm zu vermeiden. So habe ich es mir jedenfalls immer erklärt. Auch wenn ich oft Konzentrationsprobleme habe und mein alter Psychiater dachte ich hätte ADHS, war ich eigentlich eine Person, die sich, wenn etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, so stark hineinvertiefen konnte, dass sie alles um sich vergaß.

Deshalb hat mir meine Oma immer gesagt, ich müsse aufpassen und mich nicht zu sehr in meine Träume und Gedanken vertiefen, da ich mich sonst selbst verlieren würde irgendwann.

Einpaar mal war das auch fast passiert. Wieder etwas, was ich allein wegen meiner tiefen Zuneigung zu Nate und meiner Liebe zu meiner Mutter durchstehen musste.

Missmutig presse ich meine Lippen zusammen, als ich in die Einfahrt zum Schulparkplatz einbiege. Auch wenn ich manchmal das Gefühl habe, ich würde einfach anderen die Schuld für meine Schwäche geben, so ist ein Teil von mir der Meinung, ich wäre einfach zu Naiv.

Was auch oft der Fall ist. Wäre ich nicht so naiv, hätten andere nie die Macht gehabt, mich zu verletzen.

Ich schnaube und parke einfach in einer Lücke die mir gerade entgegenkommt, ohne nachzudenken.

Wenn ich halb blind sage, meine ich damit eigentlich, dass ich zwar alles sehe, aber nur so, als wäre ein hauchdünner wabernder Schleier um mein Sichtfeld herum. Als wollte mich etwas greifen und tief in eine Dunkelheit, in eine Ohnmacht ziehen, aber könnte es nicht. Ich war auch eigentlich noch nie ohnmächtig. Ich dachte deshalb eine Zeit lang ich hätte eine Sehschwäche, aber mein Augenarzt meinte, ich hätte wunderbare Adleraugen.

Anscheinend wieder etwas, was mir meine Psyche vorgaukelt. Und nein, ich bin kein Hypochonder. Dies ist nur wieder eines der Konsequenzen meiner Depression. Psychosomatische Symptome. Kommen immer dann wieder, wenn ich zu nervös und gestresst bin.

Und gerade bin ich äußerst gestresst und nervös, auch wenn ich es nicht gerne eingestehe.

Ich lasse meinen Kopf auf das Lenkgrad sinken und atme einpaar mal tief ein und aus. Ich muss mich sammeln. Nicht mehr abschweifen und in mich zurückziehen.

Meinem Bewusstsein müsste der Gedanke, dass ich mit Nate offen rede nicht Fremd sein. Denn früher hab ich das doch immer getan. Okey, dass ist etwas her. Aber prinzipiell müsste es mir ja irgendwie leichter falle, als bei einem Wildfremden.

Ich seufze, als mein Verstand sich meldet.

Sei nicht dumm! Wie sagt man?

>Die schlimmste Art von Fremden sind die, die früher einmal Freunde waren<

Du hast ihn einst mal gekannt. Jetzt ist er jemand vollkommen anderes! Ein junger Mann mit dunklen, vielleicht gefährlichen Geheimnissen, der sich einen Spaß daraus macht, dich zu demütigen!  Nichts wird mehr so sein wie früher!

Niedergeschlagen lasse ich alle Luft aus meinen Lungen entweichen und lehne mich zurück an die Kopflehne. Wieso will ich mir immer einreden, dass ich in eigentlich kenne? Wie armeselig bin ich, dass ich noch so naive Hoffnungen hege? Mein Gott. Ich mache die Augen auf und richte im Spiegel meine Haare. Dann greife ich mir meine Tasche und meine Jacke, steige aus, schließe ab und gehe zum Haupteingang.

Ich achte auf niemanden, was ich sehe ist nur mein Weg, denn jetzt abgelenkt zu werden kann ich mir nicht leisten. Entweder ziehe ich das jetzt durch, oder ich krieg mich dazu nicht mehr aufgerappelt.

Like YesterdayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt