Rastlos

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Ein kühler Windhauch durchfuhr das kurze schwarze Haar des jungen Mannes. Seit dem Morgengrauen hatte er an einem der offenen Fenster des alten Klosters gestanden und wie gebannt auf die hügelige Landschaft in der Ferne gestarrt. Den Blick stur geradeaus gerichtet. Während sich in den letzten vergangenen Stunden unzählige Vögel am Himmel hatten blicken lassen, so fühlte sich sein Inneres jedoch so leer an, als hätte man ihn in ein nicht enden wollendes, tiefes, schwarzes Loch geworfen. Einen klaren Gedanken fassen konnte er seit der letzten Nacht nicht mehr. Immer wieder sah er sie vor sich. Ihr braunes Haar. Ihre braunen Augen. Bei jedem Rauschen des Windes hörte er ihr Lachen, aus der Zeit als sie noch glücklich waren. Einer Zeit die schon lang vorüber war.
Stumm glitt eine einsame Träne aus deinen Augen und rann seine Wange hinab, bis sie in seinem kurzen Bart verschwand. Gedankenverloren wischte Jéan über die unsichtbare Spur, welche die Träne hinterlassen hatte. Sein Blick lag weiterhin auf dem grün der weit entfernten Bäume. Die ganze Welt schien in diesem Moment so friedlich. Und für einen winzigen Augenblick schien sich das Innere des Franzosen zu beruhigen. Langsam ließ er seinen Blick über die Umgebung schweifen. Das helle Grün der Wiesen am Horizont. Das Grau der Steine der Berge und das Braun der Baumstämme der Bäume des Waldes. Und inmitten dieser harmonierenden Farben sah er sie. Eine dunkle Gestalt gehüllt in einen schwarzen Umhang auf dem Rücken eines schwarzen Pferdes. 
Ein weiterer Windhauch und die feinen Härchen auf den Armen des Franzosen stellten sich auf. Seine Augen lagen wie gebannt auf der Gestalt am Waldessrand, deren Mantel im Winde sich leicht bewegte. Das standhafte Tier unter ihr rührte sich keinen Zentimeter und hatte wie sein Reiter den Blick starr gen der alten Gemäuer des Klosters gerichtet. Es schien als läge ihr Blick auf dem jungen Mann, welcher seit einigen Stunden aus einem Fenster etliche Meter über dem Erdboden blickte. 
Ein eisiger Schauer lief dem Franzosen über den Rücken, während seine Hände, zu Fäusten geballt, auf dem steinernen Fenstersims lagen. Die Leere in seinem Inneren machte es Jéan unmöglich auch nur einen Gedanken klar zu denken und so starrte er weiter auf das Geschehen in der Ferne.

„Jéan?“ Behutsam lugte Alea durch die halb offene Tür in den kleinen Raum. Seine rote Strähne hing im zerzaust ins Gesicht, während er ruhigen Schrittes die Kammer betrat und sich neben seinen Freund und Begleiter stellte. „Jéan....es...tut mir so unendlich leid....“ versuchte der junge Dudelsackspieler den Schwarzhaarigen auf sich aufmerksam zu machen, doch dieser blickte nur weiterhin geradeaus. „Geht es dir gut?“ Alea bemühte sich um eine Antwort seines Freundes, doch war er noch nie besonders gut in Gesprächen dieser Art gewesen und so hätte er sich just im selben Moment, als er die Frage ausgesprochen hatte, selbst eine verpassen können. Natürlich ging es Jéan nicht gut.
„Was willst du Alea?“ fragte der Schwarzhaarige schließlich nach einigen Minuten des Schweigens schwach und drehte sich dem Spielmann zu. Das sonst so makellose Gesicht des Franzosen war ein Spiegel seines Inneren. Die Haut war blass und unter den dunklen Augen fanden sich noch dunklere Augenringe. Die Zeugen der letzten Nacht. „Ich.....“ Der Rothaarige versuchte seine Worte zu sammeln. „Wir...wollten noch in der nächsten Stunde aufbrechen. Ich weiß es kommt ziemlich überraschend und auch plötzlich...“ Nun sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. Er wollte es hinter sich bringen. „....Vor allem nachdem was letzte Nacht passiert ist. Wir hätten dir auch noch Zeit zum trauern gegeben, doch.....“ Alea verstummte. „Doch was?“ fragte Jéan und drehte seinen Kopf wieder gen dem offenen Fenster. „Bruder Frank meint, dass von Seiten der Berge her schwarze Wolken aufziehen. Er meinte es seien die ersten Vorboten des Winters. In den nächsten Tagen könnte alles hier unter meterhohem Schnee bedeckt sein.“ Alea! Schau doch mal raus! Das ist doch völliger Unsinn! Schnee....jetzt?!“ Und so trat auch der rothaarige Spielmann an das geöffnete Fenster und blickte über das friedliche grüne Tal vor ihnen. „Wenn man es so betrachtet....doch ich denke, dass er weiß wovon er spricht. Er wohnt hier schließlich seit Jahren. Wenn nicht sogar Jahrzehnten!“ Unschlüssig trat Alea vom Fenster wieder zurück. „Kommst du mit uns?“ fragte er Jéan noch einmal, während er sich der Tür zu wand um zu gehen. Der junge Franzose stand noch immer an dem offenen Fenster. Seine Arme ruhten ruhig auf dem kalten Stein des Fenstersims. Es machte keinen Anschein sich zu bewegen. Alea zu folgen. „Alea....ich werde hier bleiben. Ihr müsst euren Weg ohne mich fortsetzten. Ich werde das Kloster nicht verlassen....“ sprach er mit beunruhigend ruhiger Stimme „...und wenn der Schnee tatsächlich kommen mag, so werde ich hier sein. Es soll kommen wie es kommen mag. Ich bin für alles bereit. Und wenn der Schnee oder dieser Gemäuer mein Grab seien sollten....ich bin bereit...für alles.“ Mit diesen Worten verstummte er und blickte weiter gen Richtung Wald. Doch die düstere Gestalt, welche vor wenigen Augenblicken noch am Rande jenes Waldes gestanden hatte war verschwunden. Spurlos. Und während Alea mit gesenktem Kopf die Kammer verließ und die Tür hinter sich leise schloss, suchte der junge Franzose aus unerklärlichen Gründen nach dem dunklen Schatten. Doch in seinem Inneren wusste er: Finden wollte er sie nicht!

Die Hufe der beiden Pferde klapperten rhythmisch auf dem trockenen Boden des Pfades. Vor wenigen Stunden hatten sie das alte Kloster des Bruders hinter sich gelassen, wie auch den schmerzhaften Verlust, wie sie hofften. Der schmale Weg hatte sie wieder bergab gen Tal geführt, über Stock und Stein, bis sie schließlich erneut in das Meer aus Gras eingetaucht waren. Rechts neben ihnen erstreckte sich der weitläufige Wald, welchen man auch von den Mauern des Klosters aus gesehen hatte. Hier unten, weitab der Berg, schien eine gänzlich andere Welt zu existieren. Friedlich und ohne Schmerz und Verlust. „Er fehlt...“ bemerkte El Silbador nach der schier endlosen Stille. „Ich weiß.“ Noch nie war Alea so Wortkarg gewesen wie in diesem Moment. Der Franzose fehlte ihm. Mit seinen Scherzen und Sprüchen. Doch der erneute, nun endgültige, Verlust seiner Liebe hatte ihn gebrochen. Und es hatte den Spielmännern geschmerzt ihn so zu sehen, wie auch ihn zurückzulassen. 
Der Wind lies das hohe Gras sanft rauschen und die Vögel zwitscherten ihr Lied in den Höhe. Doch diese Ruhe verblieb nicht lang. Schnelles Hufgeklapper durchschnitt die Stille und hielt auf die beiden Reisenden zu. Beinahe zeitgleich drehten sich die jungen Spielmänner in ihren Sätteln herum. Als ihre Blicke auf den stürmischen Reiter fielen, welcher sich mit raschem Tempo ihnen näherte, blieb ihnen beinahe das Herz stehen.

Saltatio Mortis-Ich zeig dir deine LiederWo Geschichten leben. Entdecke jetzt